TEIL I. DIE LATEINSCHRIFT DES ALTERTUMS
KAPITEL I. DIE VORGESCHICHTE DER LATEINSCHRIFT
DIE SCHRIFT, die uns heute zum Schreiben und zum Drucken dient, ist das Er¬
gebnis der zweieinhalbtausendjährigen Entwicklung der Lateinschrift, der Schrift der
alten Römer. Der kulturelle Nachlaß des alten Roms, zu dessen Erben wir uns infolge
der Übernahme der Lateinschrift hinzugesellt haben, ist zwar in vieler Hinsicht gro߬
artig, aber im ganzen und wesentlichen nur indirekt. Die alten Römer waren mehr
Eroberer als Entdecker, und sie hätten sich, nur auf ihre eigenen Fähigkeiten ange¬
wiesen, wohl kaum zum Kulturniveau ihrer Vorgänger auf der Bühne der antiken
Gesellschaft emporgearbeitet. Ihre Zivilisation war in vielem keineswegs ursprünglich,
sondern von den Griechen übernommen, anfangs wahrscheinlich durch Vermittlung
der Etrusker und später durch direkte Nachahmung. In ihrem nationalen Charakter
überwogen mehr praktische als spekulative und schöpferische Begabungen. Sie waren
gute Organisatoren und Juristen, aber ihre Philosophie, bildende Kunst und Literatur
ahmte unbekümmert die griechischen Vorbilder nach, die die Römer nur ausnahms¬
weise durch eigene Beiträge ergänzten wie in der Architektur durch den Bogen und
das Gewölbe.
Wenn die römische Zivilisation auf ihrem Scheitelpunkt in solchem Maß hellenisiert
war, überrascht auch die leicht festzustellende Tatsache nicht, daß die Lateinschrift
gleichfalls griechischen Ursprungs ist. Die Übereinstimmung beider Alphabete war
in der archaischen Periode tatsächlich so groß, daß darüber nicht der geringste Zweifel
bestehen kann. Verfolgen wir jedoch die Entwicklung der Lateinschrift noch weiter
zurück, so überzeugen wir uns mit nicht geringerer Gewißheit, daß auch die Griechen
ihre Schrift nicht selbst erfunden, sondern in fast vollendeter Gestalt von den Phöni-
kern übernommen haben, bei denen vorläufig alle verläßlichen Spuren der mit Sicher¬
heit feststellbaren Vorgeschichte der Lateinschrift enden. Die zusammenhängende
Entwicklungsreihe der alphabetischen Schriften reißt hier ab, und über das fehlende
Glied zwischen der phönikischen Schrift und ihren möglichen Vorgängern streiten
mehrere gegeneinander argumentierende Theorien, die an eine oder die andere der in
der Frühzeit der Menschheitsgeschichte existierenden Schriften anzuknüpfen bemüht
sind.
Schauplatz dieser ältesten Geschichte waren bekanntlich der Nahe Osten, Vorder¬
asien und das angrenzende Nordafrika, in den eigentlichen Anfängen sodann die Tal¬
niederungen der großen Ströme Nil und Euphrat-Tigris. Die Frage, welche von diesen
beiden Kulturen älter ist, beschäftigt die Archäologen immer noch. Neben den ge¬
nannten kann jedoch eine weitere, erst kürzlich entdeckte Kultur in Betracht gezogen
werden: die protoindische im Tal des Indus-Stroms. Sie ist zwar vielleicht um vieles
jünger, aber ihr Einfluß auf die Entwicklung der Kulturen Vorderasiens wurde des¬
senungeachtet oft für möglich und wahrscheinlich gehalten. Doch nicht nur in der
Frage des höheren Alters dieser ältesten Kultur herrscht bisher keine völlige Einheit
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