KAPITEL II. DIE GOTISCHE BUCHMINUSKEL
BIS AUF SELTENE Ausnahmen ging die Entwicklung einer jeden neuen Stilform
der Schrift, wie wir bereits wissen, nur sehr allmählich vor sich, und dieser Regel
widersetzt sich auch die gotische Minuskel nicht, denn auch sie tauchte nicht mit
einem Mal und ohne vorherige Übergangsformen auf. Dem Prinzip der Vertikalität,
das für manche klassische Formen dieser gotischen Buchschrift so bezeichnend ist, sind
wir übrigens schon früher in der Geschichte der Schrift öfter begegnet, vor allem bei
der urkundlichen Gitterschrift der Überschriftzeilen mancher fränkischer Hofurkun¬
den, wo wir schon seit dem 9. Jahrhundert eine so übertrieben betonte Vertikalität
des Duktus feststellen konnten, daß dieses gotische Prinzip damit lange vor der eigent¬
lichen Gotik ad absurdum geführt wurde. Was das gotische Prinzip des Spitzbogens
und der eckigen Schriftzeichnung betrifft, könnten wir die Vorfahren der gotischen
Minuskel in den hochentwickelten Schriften erblicken, derentwegen die Schriftschule
des Klosters Monte Cassino nebst anderen Zentren der süditalienischen Kalligraphie
auf dem Gebiet der langobardischen Fürstentümer seit dem 10. Jahrhundert welt¬
weiten Ruf genoß. Doch einen direkten Einfluß dieses und anderer möglicher mehr
oder weniger entfernter Vorläufer auf die Entstehung der gotischen Minuskel hält
man heute allgemein weder für notwendig noch für wahrscheinlich, obwohl verwandte
graphische Tendenzen hier leicht zum Vergleich und zu irrtümlichen Folgerungen
führen könnten. Die Schriftentwicklung kam an der Wende der romanischen und
gotischen Stilepoche in der Tat ausschließlich unter dem Druck zeitgenössischer Im¬
pulse und ohne Mitwirkung älterer Vorbilder in Gang, denn die Kräfte der gleich¬
zeitigen Wandlung der universalen Stilauffassung waren stark genug, um unverzüglich
auch in die Einsamkeit der Klosterskriptorien einzudringen und dort in gleichem Maß
und in gleicher Richtung auf den Duktus der karolingischen Minuskel wie auf die
romanische Tradition der zeitgenössischen Baukunst einzuwirken. Und so büßte die
karolingische Minuskel zu gleicher Zeit, als sich der romanische Rundbogen zum
gotischen Spitzbogen wandelte, ihre charakteristische Rundheit ein und ihr Duktus
begann Brüche aufzuweisen und wurde schmäler. Diese Übereinstimmung ist nicht
nur eine chronologische, sondern auch eine geographische, denn wie am Anfang des
12. Jahrhunderts in Nordfrankreich die ersten unmißverständlichen Anzeichen eines
Stilwandels der mittelalterlichen Architektur in Erscheinung treten, stellen wir auch
in manchen Buchhandschriften dieser Zeit aus nordfranzösischen Klöstern ebenso
unbestreitbare Anzeichen der Entstehung der gotischen Minuskel fest. Wie in der
Baukunst können wir die ersten Spuren dieser allmählich vor sich gehenden Stil¬
wandlung auch in der Schrift noch früher aufzeigen, schon im 11. Jahrhundert, in dem
bereits Schriften mit mehr oder minder augenfälligen Übergangssymptomen Vor¬
kommen.
Wenn die Entwicklung der gotischen Minuskel schon so früh einsetzte, um ohne
Unterbrechung nicht nur das ganze Zeitalter der Gotik hindurch, sondern unter
günstigen lokalen Bedingungen bis in unser Jahrhundert fortzudauern und eigent¬
lich dann erst endgültig zum Abschluß zu kommen, ist es natürlich, daß sie sich im
Laufe der Jahrhunderte zu zahlreichen Modifikationen verzweigte, die dem Versuch
einer systematischen Einordnung nicht geringe Schwierigkeiten bereiten. Die ältere
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