GOTISCHE MAJUSKEL
deren formale Behandlung durch den Reichtum und die Ungebundenheit der mehr
zeichnerischen als kalligraphischen Phantasie überrascht. Mit der Kompliziertheit des
Aufbaus ihres Schriftbildes stellen diese Vespasiano-Alphabete zweifellos eine für ihre
Zeit nicht wenig bemerkenswerte Erscheinung dar, die den sehr frühen Ursprung von
Formen und eines Schreibstils bezeugt, wie er erst für die Barockzeit typisch werden
sollte.
Die gotische Schrift überlebte ihre eigene Stilepoche um ganze Jahrhunderte, wovon
wir noch kürzlich Zeugen waren, und die neuen Stile prägten den alten Schriftformen
bis zu einem gewissen Grade ihren Stempel auf, insbesondere der gotischen Majuskel.
Am ausgeprägtesten machte sich bei ihr in dieser Hinsicht das Barock geltend, und
weder zuvor noch danach begegnen wir einer so entfesselten dekorativen Willkür wie
in den Barockinitialen der Buchtitel, gewisser Urkunden und vor allem in den Muster¬
sammlungen der zeitgenössischen Kalligraphen. Die Führung hatten diesbezüglich,
wie es scheint, die niederländischen Kalligraphen inne, an erster Stelle Jan van den
Velde mit seinen vielen in Kupferstich reproduzierten Sammlungen, die nach 1600 in
zahllosen Ausgaben erschienen. Doch auch die deutsche Barockkalligraphie blieb
nicht zurück, wie die vielen deutschen kalligraphischen Mustersammlungen des 17.
Jahrhunderts erkennen lassen. Für deren instruktivste halte ich die Sammlung ‘Kunst¬
richtige Schreibart Allerhand Versalien oder Anfangs-Buchstaben etc.’, die Paul Franck
in Memmingen im Jahre 1601 herausgab. Es ist dies eine bemerkenswerte Sammlung
beachtlicher, größtenteils noch in Holzschnitt reproduzierter Alphabete gotischer Ma¬
juskeln aller Arten.und Größen, deren größte nicht mehr auf einer Buchseite großen
Formats Platz fanden, so daß man sie als Faltbeilagen von doppelter Höhe besonders
einkleben mußte. Ein formaler Reichtum kalligraphischer Elemente und entsprechen¬
den Zubehörs, dicker und dünner Striche, runder und gebrochener Formen, Schleifen,
verschiedenartig sich schlängelnder Linien, Spiralen, Ranken usw. ist hier in so un¬
übersehbarer Menge angehäuft, daß sich darin das eigentliche Schriftbild völlig ver¬
liert. Auch aus unseren Beispielen (Abb. 200, 201) ist ersichtlich, daß der eigentliche
Sinn der Existenz der Schrift als solcher, d. h. ihre Lesbarkeit, hier überhaupt nicht
mehr respektiert wurde, daß die Schriftzeichnung zum bloßen Vorwand für ein selbst-
zweckhaftes Spiel mit der abstrakten Zeichnung und zur bloßen Gelegenheit wurde,
eine kalligraphische Equilibristik zur Schau zu stellen. Anders kann man das wirklich
nicht sagen, und dennoch können wir trotz all dieser Einwände den Franckschen
Alphabeten eine gewisse und meiner Meinung nach nicht gerade kleine ästhetische
Wirkung keineswegs absprechen, denn diese Schriften sind auf ihre Weise sicherlich
schön, auch wenn sie in Wirklichkeit weniger Schriften als Ornamente darstellen.
In den folgenden Zeitabschnitten überschritt die Entwicklung der gotischen Ma¬
juskel nie mehr den im 17. Jahrhundert erreichten Gipfel, denn sie blieb mit der
Entwicklung der Minuskelformen der Druckschrift des gotischen Typus verknüpft.
In diesem Zusammenhang werden wir noch Gelegenheit haben, einige weitere ihrer
allerdings schon gemäßigteren Varianten kennenzulernen, aber zuvor müssen wir weit
zurückgreifen und die Anfänge der Entwicklung der gotischen Minuskel und Kursiv
behandeln, weil sie für das Studium des gotischen Schreibwesens und des gotischen
Druckschriftschaffens von unverhältnismäßig größerer Bedeutung sind.
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200. Gotische kalligraphische Majuskel. P. Franck, 1601.
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