ig8, igg. Gotische Ornamentalmajuskel. Vespasiano Amphiareo, 1554.
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GOTISCHE MAJUSKEL - JÜNGERE FORM
Umschwung zur standardisierten gotischen Majuskel im Verhältnis zu fest umrissenen
Gruppen neuer Formen der Druckminuskel und der Kursiv des gotischen Typus ein.
Doch das geschah bereits in einer Zeit, da sich die bis dahin universale Verbreitung
der gotischen Schrift im Niedergang befand. Durch die formale Stabilisierung der
gotischen Druckmajuskel in einer kleinen Zahl Varianten wurde ihre Lesbarkeit je¬
doch keineswegs besser, so daß auch im Buchdruck der folgenden Jahrhunderte go¬
tische Versalien allein für sich kaum verwendbar waren und daher auch nur selten
verwendet wurden. Diese neuen Formen der gotischen Majuskel sind jedoch schon
untrennbar mit dem entsprechenden kleinen Alphabet verbunden, weshalb wir ihnen
in den nächsten Kapiteln bei der Analyse weiterer Gruppen von Schriften des goti¬
schen Typus Aufmerksamkeit widmen werden.
Wenn die gotische Majuskel schon in den handschriftlichen Kodizes Hauptdomäne
des kalligraphischen Erfindergeistes war, befand sie sich als einzige übrigbleibende
Gelegenheit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als die Kalligraphie vom Buchdruck
aus der Buchproduktion verdrängt wurde. Zu dieser Zeit begann die Phantasie der
Kalligraphen erst auf vollen Touren zu laufen, denn im urkundlichen Schreibwesen,
das ihnen als einziges Tätigkeitsfeld geblieben war, wurde sie durch nichts mehr be¬
hindert. In den Handbüchern der Kalligraphen und Sammlungen von Beispielen
ihrer professionellen Kunstfertigkeit war auch unter anderen Schriften und neben
Mustern der älteren gotischen Majuskel deren jüngere Form in der Regel gebührend
vertreten. In der Rolle der Initiale gewann sie einen immer dekorativeren Charakter,
und in dieser Hinsicht konnten sich ihre Schöpfer natürlich nicht auf lange Zeit mit
der Verdoppelung der Züge als hinreichendem kalligraphischem Mittel zufrieden¬
geben. Neue dekorative Elemente wurden aus verschiedenen Inspirationsquellen ge¬
schöpft und mit ungewöhnlicher Kühnheit und Phantasie gestaltet, obwohl man zu¬
vor, in der Renaissanceepoche, gewisse Grenzen einer maßvollen Kalligraphie meist
nicht überschritt. Als Beispiel einer solchen für diese Epoche typischen ornamentalen
jüngeren Form der gotischen Majuskel kann ein Alphabet des vielseitigen deutschen
Malers Albrecht Dürer aus dem Jahre 1525 gelten (Abb. 197), in dem die hinzu¬
gefügten Vertikalen durch Säulen schräggestellter Quadrate ersetzt sind. Wenngleich
die Kalligraphie dieses disziplinierten Typus in der Renaissance überwog, standen
Schöpfungen einer zeitgenössischen Schreibkunst, die auf ähnliche Hemmungen der
kalligraphischen Phantasie keine Rücksicht nahm, trotzdem nicht vereinzelt da. So
umfaßt z. B. die Sammlung Opera di Frate Vespasiano Amphiareo nellaquale si
insegna a scrivere varie sorti di lettere, deren erste Ausgabe 1554 in Venedig erschien
und die ich in der Ausgabe von 1556 zur Hand habe, Alphabete der jüngeren Form
der gotischen Majuskel, in denen dieser berühmte italienische Kalligraph wirklich
schon sehr weit geht. Im ersten hier angeführten Beispiel seiner Varianten dieser
Schrift (Abb. 196) verhielt er sich noch sehr gemäßigt, und es war ihm eigentlich um
nichts anderes zu tun, als um eine weitere rein schreibmäßige, wenn auch ornamen¬
tierte Form der gotischen Majuskel. Er ging dabei mit Mitteln der Schreibtechnik
zuwege - der breit zugeschnittenen Feder, die meist konsequent in der Einheitsrich¬
tung der schrägen Schattenachse gehalten wurde -, und es wäre auch ohne besondere
Schwierigkeiten möglich, diese Schrift schreibend wiederzugeben. Das kann man aller¬
dings nicht mehr von den weiteren, einer geschriebenen Schrift völlig fremden, ge¬
zeichneten Beispielen einer ornamentierten gotischen Majuskel sagen (Abb. 198, 199),
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