GOTISCHE MAJUSKEL
dererseits zu beachtlichen Ergebnissen, denen man eine graphisch interessante Wir¬
kung nicht absprechen kann. In unserem Alphabet einer solchen entwickelten jüngeren
Form der gotischen Majuskel (Abb. 193, 194), die vor allem aus zwei böhmischen
Kodizes zusammengestellt ist, nämlich den wahrscheinlich aus demselben Skriptorium
stammenden und in den Jahren vor und nach 1364 entstandenen Handschriften des
Breviariums und Missale des Johann von Neumarkt, finden sich nur noch wenige
Buchstaben in der Grundzeichnung, denn in ihrer überwiegenden Mehrzahl haben sie
zwei und auch drei vertikale Schäfte und ähnlich verdoppelte und verdreifachte an¬
dere Vertikalzüge. Einen Hinweis verdient auch die immer radikalere Eckigkeit des
Schriftbildes, die Bogen werden in der Mehrzahl der Varianten einzelner Buchstaben
fallengelassen und durch gerade Züge ersetzt. Das Eckige der Schriftzeichnung wird
nicht an den Enden, sondern auch in der Mitte der Schäfte noch durch scharfe Dornen
hervorgehoben. Das Prinzip der Verdopplung der Züge kommt auch bei manchen
nichtvertikalen Strichen zur Anwendung, beispielsweise bei den kurzen Querstrichen
des E und den S-Schleifen. Im ganzen stellt diese jüngere Form der gotischen Ma¬
juskel eine höchst dekorative Schrift dar, die willkommene und fast unerschöpfliche
Möglichkeiten neuer formaler Varianten bot. In unserer Zusammenstellung des Al¬
phabets sind diese beiweitem nicht erschöpft, obwohl wir hier den Buchstaben E in
sechs verschiedenen Abwandlungen vertreten sehen.
In dieser Richtung entwickelte sich die gotische Majuskel auch im 15. Jahrhundert
weiter, und ihre Zeichnung wandelte sich zu immer weiteren Varianten. Diese von
der Schreibpraxis herkommende Tradition setzten nach der Erfindung des Buch¬
drucks auch die Stempelschneider fort; zunächst kopierten sie zwar noch getreu die
handschriftlichen Vorbilder, erfanden aber bald ihre eigenen Varianten, und nicht
selten außerordentlich geglückte, wie z. B. die schmale verzierte Majuskel, die der
Basler Drucker Michael Wenszler für seinen Druck des Graduale Romanorum aus
dem Jahre 1488 anfertigte (Abb. 195). Doch auch dann kam es noch nicht zu einer
festeren Stabilisierung der Schriftzeichnung der gotischen Majuskel, so daß noch am
Ausgang des 15. Jahrhunderts, am Ende der Inkunabelzeit, die bisherige allzugroße
Willkür in der Bearbeitung ihrer Konstruktion weiterhin vorherrschte. Die frühen
Drucker waren sich allerdings noch nicht der Notwendigkeit einer Konzeption des
großen und kleinen Alphabets als eines unteilbaren und harmonischen Ganzen be¬
wußt geworden. Auch im Buchdruck war das große Alphabet somit anfänglich noch
eine selbständige Schrift, und wir werden sehen, daß Versalien eines Typus oft ver¬
schiedenen Modifikationen der gotischen Minuskel beigefügt wurden, die formal stark
von ihnen abwichen und ihnen entwicklungsmäßig fern standen. Es wird daher not¬
wendig sein, in der geschichtlichen Abfolge der Schriften des gotischen Typus vor
allem den formalen Wandlungen des kleinen Alphabets Aufmerksamkeit zu schenken,
Wandlungen, die für die Kenntnis des Entwicklungsverlaufs und die Bestimmung der
Entwicklungsphase von entscheidender Bedeutung sind. Die gotische Majuskel hatte
auch im Buchdruck eine im Grunde dekorative Aufgabe, weshalb sie sich zu einer
Reihe von ungewöhnlich zahlreichen und mannigfaltigen Formen entfaltete, deren
Verschiedenheit jedoch von Vorteil sein kann, wenn es sich beispielsweise um die
Ermittlung der Person des Druckers eines nicht mit den Erscheinungsdaten versehenen
Wiegendrucks handelt. Erst am Anfang des 16. Jahrhunderts, als man beide Alpha¬
bete, das große wie das kleine, als unteilbares Ganzes aufzufassen begann, setzte ein
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ig6. Gotische Majuskel. Vespasiano Amphiareo, 1554.
igj. Gotische Majuskel. A. Dürer, 1525.
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