I95- Gotische Majuskel. Michael Wenszler, 14.88.
GOTISCHE MAJUSKEL - JÜNGERE FORM
Jahrhunderts annehmen. Während das В die Grundkonstruktion der lateinischen Ma¬
juskel beibehält, ist die erste und zweite С-Variante eine lediglich vergrößerte Mi¬
nuskel. Die dritte Variante dieses Buchstabens zeigt hier jedoch eine völlig neue und
für die jüngere gotische Majuskel besonders typische Form. Das Neue besteht darin,
daß der Bogen von einer dicken Vertikale durchschnitten wird, die wahrscheinlich
im Einklang mit der Allgemeintendenz der gotischen Buchkalligraphie die Vertikalität
betonen sollte. Beim D ist die Unzialform weiterhin typisch auch für die gotische
Minuskel und wurde in der jüngeren gotischen Majuskel zur Grundform. Doch auch
die gotisierte Grundform der lateinischen monumentalen Majuskelkonstruktion kommt
hier nicht selten in einer Form vor, die wir als dritte Variante dieses Buchstabens
anführen. Die Herkunft der ersten bis dritten E-Variante von der Minuskel ist nicht
minder augenfällig wie die Unzialprovenienz der vierten und fünften Variante dieses
Buchstabens. Unsere sechste E-Variante stellt sodann eine interessante Kombination
dieser beiden Grundelemente in einer graphischen Gestaltung vor, die mit ihrem
senkrecht abgeschnittenen Bogen gleichfalls für die jüngere gotische Majuskel be¬
sonders typisch ist. Dasselbe gilt von der dritten Variante des G, das jedoch manchmal
mit einer Form ohne den senkrechten Strich vertreten ist, also ungefähr wie in der
älteren gotischen Majuskel. Das H behält seine Unzialform bei, das I hat in der Regel
die Form der vergrößerten Minuskel j, und aus der Minuskel abgeleitet sind auch die
verschiedenen Varianten des F und K. Das L erinnert manchmal an die Minuskel,
ein andermal wieder an die Majuskelkonstruktion. Dieselbe Grundzeichnung wie in
der älteren gotischen Majuskel haben die Buchstaben M und N, die manchmal we¬
niger, aber öfter ausgeprägt eckig geformt sind. Während das P und das R bisher ihre
einheitliche und deutliche traditionelle Zeichnung beibehalten, kommt das Q,in ver¬
schiedenen Formen vor, entweder in der Grundform der Minuskelzeichnung oder
in Varianten der Majuskelkonstruktion, mit vertikal durchschnittenem Kreis des
Schriftbildes wie bei den Buchstaben С, E, G und О oder nur vertikal beschnitten
wie bei der sechsten Variante dieses Buchstabens in unserem Alphabet. Von den
übrigen Buchstaben, die in uns bereits bekannten Formen vertreten sind, verdient nur
das T mehr Aufmerksamkeit; es kommt entweder mit bogenförmigem, aber vertikal
überschnittenem Schaft wie in der älteren gotischen Majuskel, oder mit senkrechtem
gebogenem Schaft in einer Form vor, die zum Ausgangspunkt weiterer gotischer Va¬
rianten dieses Buchstabens werden sollte.
Wie hier bereits festgestellt, kam die jüngere Form der gotischen Majuskel auch in
ihren Anfängen, und auch das nur in geläufiger geschriebenen Handschriften, selten
in so einfacher Gestalt vor, wie wir sie im eben angeführten Alphabet geschildert
haben. Schon im 13., aber vor allem im 14. Jahrhundert begegnen wir überall ihrer
insgesamt viel komplizierteren Zeichnung und viel zahlreicheren Varianten. Impuls¬
gebend für diese Entwicklung war nicht nur die bloße Vorliebe der Schreiber für
dekorative kalligraphische Spielereien, sondern die allgemeine Stiltendenz, die die
Vertikalität der Schriftzeichnung betonte, denn diese hatte sich im breiten Majuskel¬
bild bisher nicht genug deutlich geltend gemacht. Im Einklang mit dieser Tendenz
fügte man also der Schriftzeichnung weitere Vertikalen bei, die vom Standpunkt der
graphischen Zweckmäßigkeit aus allerdings überflüssig und daher auch der Lesbarkeit
abträglich waren. Dieses deshalb gewiß bedenkliche Verfahren, das vor allem in der
Verdopplung der Schäfte durch stärkere oder schwache Striche bestand, führte an-
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