GOTISCHE MAJUSKEL
dieses Typus dekorative Überschriftzeilen geschrieben oder vielmehr gemalt. Ihr
Hauptmerkmal sind sehr schmale Proportionen, und das ist eigentlich das Einzige,
womit sie sich von der primären Buchform unterscheidet. Sie zeigt im wesentlichen
dieselbe Grundkonstruktion wie die frühgotische Majuskel und das gleiche ornamen¬
tale, von pflanzlichen Elementen inspirierte Prinzip der dekorativen Behandlung, das
auch hier fast unbegrenzte Möglichkeiten zeichnerischer Variationen zuließ. Schöne
Ergebnisse hatten in dieser Hinsicht vor allem die italienischen Kalligraphen zu ver¬
zeichnen, die eine Majuskel dieses Typus in ihren Sammelbänden entweder den
Mustern der Urkundenschriften lettera bollatica und lettera imperiale beifügten oder
sie selbständig vorführten, wie es beispielsweise Giovanni Francesco Cresci noch 1570
mit einem prachtvollen Alphabet tat (Abb. 188, 189), das begreiflicherweise in so
später Zeit bereits von der Renaissanceornamentik beeinflußt ist.
Als eine von der Unziale abgeleitete Schrift wirkte die ältere Form der gotischen
Majuskel mit ihrem Rundcharakter ein wenig fremd schon in den mit der frühgo¬
tischen Minuskel geschriebenen Texten, wo der typisch gotische eckige Duktus in
dieser noch nicht voll zur Geltung kam. Der unterschiedliche zeichnerische Charakter
des kleinen und großen Alphabets machte sich in der weiteren Entwicklung natürlich
noch stärker bemerkbar, als die Minuskel infolge der konsequenten Brechung der
runden Züge ein weitgehend eckiges Aussehen gewann und als es zugleich zur Ge¬
wohnheit wurde, die Majuskel auch im Text zu verwenden, nämlich am Anfang des
Satzes und zur Kennzeichnung der Eigennamen. Doch wir können nicht annehmen,
daß diese Uneinheitlichkeit des Stils allein bereits ein Verlangen nach Abhilfe her¬
vorgerufen hätte, wenn nicht gleichzeitig Schwierigkeiten technischer Art aufgetreten
wären, die sich fühlbar machten, denn die runde Majuskel und die eckige Minuskel
ließen sich nicht mit ein und derselben auf eine bestimmte Weise zubereiteten Feder
und mit derselben Schreibtechnik bewältigen. Vor allem aus diesem Grund also be¬
gann schon um die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts parallel mit der älteren Form eine
jüngere Form der gotischen Majuskel in Erscheinung zu treten, und zwar dort, wo kein
Bedürfnis bestand, durch eine Schrift unterschiedlichen Charakters und u. U. anderer
Farbe einen Buchstaben besonders hervorzuheben. Formal wurde diese zunächst ver¬
hältnismäßig einfache Majuskel aus Elementen verschiedener Herkunft abgeleitet, in
ihrem Alphabet (Abb. 191, 192) können wir einerseits Unzialformen und aus der
älteren gotischen Majuskel oder sogar aus der alten Urkundenmajuskel übernommene,
anderseits durch Vergrößerung von Buchstaben des kleinen Alphabets entstandene
Formen feststellen. Daraus kann man jedoch leider nur sehr annähernde Regeln ab¬
leiten, denn schon in den Anfängen der Entwicklung dieser jüngeren Form der goti¬
schen Majuskel finden wir eine Vielzahl individueller Abweichungen bei denselben
Buchstaben und in derselben Handschrift vor, abgesehen davon, daß wir dieser Schrift
verhältnismäßig selten in ihrer Grundform ohne weitere hinzugefügte nichtkonstruk¬
tive Striche begegnen. In unserem aus den einfachsten Varianten einzelner Buchstaben
in verschiedenen böhmischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts zusammen¬
gestellten Alphabet ist das A zunächst in Gestalt der vergrößerten einbäuchigen und
zweibäuchigen Minuskel dieses Buchstabens vertreten. Seine dritte und vierte Va¬
riante sind formale Modifikationen der Minuskel mit offenem oberem Bauch. Die
fünfte dieser A-Varianten kann man sodann entweder für eine weitere Modifikation
der Minuskel halten oder eine Verwandtschaft mit der Urkundenmajuskel des 12.
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igo. Gotische Ornamentalmajuskel. G. A. Tagliente, 1524
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