i88, i8g. Gotische Ornamentalmajuskel. G. F. Cresci, 1570.
GOTISCHE MAJUSKEL - ÄLTERE FORM
moderner Zeit in den Katalogen der Schriftgießereien wie in Handbüchern des Schrift¬
schaffens und Sammelbänden schriftkünstlerischer Vorlagen, wo Initialschriften dieses
Typus aus unerfindlichen Gründen als lombardische Versalien bezeichnet werden, ob¬
wohl man sie schwerlich mit der Lombardei und umso weniger mit dem lombardi¬
schen oder gar langobardischen Schriftschaffen in Beziehung bringen kann.
Die wenigen eben angeführten Beispiele erschöpfen allerdings beiweitem nicht den
ganzen Formenreichtum der möglichen und auch tatsächlich vorkommenden Va¬
rianten der gotischen Majuskel, die schon in dieser älteren Form willkommene Gele¬
genheit bot, sowohl die dekorative Erfindungsgabe als auch die künstlerische Indi¬
vidualität des Schreibers oder Illuminators zur Geltung zu bringen. Die ornamentalen
Modifikationen der älteren Form der gotischen Majuskel sind daher natürlich viel zu
zahlreich, als daß wir hier versuchen könnten, ihre ausführlichere Übersicht zusam¬
menzustellen, und es bleibt daher nichts anderes übrig, als uns auf einige Beispiele zu
beschränken, die als besonders typisch für verschiedene Tendenzen einer dekorativen
Behandlung gelten können. Als ein sehr anschauliches und schönes Beispiel aus der
Frühzeit des in diese Richtung weisenden gotischen Schriftschaffens sind die hier be¬
reits erwähnten farbigen, außerordentlich kühn gezeichneten und mit pflanzlichen
Formen geschmückten romanisch-gotischen Initialen im Antiphonar von Sedlec, einer
böhmischen Buchhandschrift etwa aus der Mitte des 13. Jahrhunderts (Abb. 184) in
der Prager Universitätsbibliothek, die sonst vor allem ihres bemerkenswert hochste¬
henden spätromanischen Illustrationsschmucks wegen berühmt ist, zu nennen. War
die auf diese Weise frei konzipierte ornamentale Majuskel mehr ein Kennzeichen des
frühgotischen handschriftlichen Buchschaffens, so läßt ihre ornamentale Behandlung
in den mit Schriften des gotischen Typus gedruckten Büchern in der Regel viel mehr
Disziplin erkennen, obwohl diese Schriften im übrigen nicht weniger reich und man¬
nigfaltig sind. Auch dieses Schriftschaffen überlebte die eigentliche gotische Stilepoche,
und diesem Umstand verdanken wir die Möglichkeit, in den kalligraphischen Muster¬
sammlungen, die seit Beginn des 16. Jahrhunderts immer zahlreicher wurden, Bei¬
spiele vollständiger Alphabete auszuwählen. Aus diesen können wir dann die Lehre
ziehen, daß die ältere Ornamentalform der gotischen Majuskel in grob genommen
zwei Gattungen vorkam, einer vorwiegend zeichnerischen, wie z. B. einem schönen,
von Ludovico Vincentino in seinem Sammelband aus dem Jahre 1523 angeführten
Linearalphabet (Abb. 186, 187), und einer zweiten, dem Schreiben näheren Gattung,
wie z. B. jenem Alphabet, das Giovanni Antonio Tagliente als Vorlage für die Ausgabe
seiner Sammlung aus dem Jahre 1524 (Abb. 190) mit breit zugeschnittener und in der
schrägen Schattenachse gehaltener Feder schrieb. Schriften dieser oder jener Art be¬
gegnen wir nicht nur schon ein Jahrhundert zuvor, sondern auch in der Barockepoche,
vor allem im deutschen Buch- und kalligraphischen Schaffen, meist jedoch bereits in
überlebten und Verfallsformen, denn zu dieser Zeit überwog längst eine anders orien¬
tierte Kalligraphie.
In kalligraphischen Mustersammlungen des 16. Jahrhunderts ist diese ornamentale
Form der älteren gotischen Majuskel manchmal überdies mit einer etwas abweichen¬
den Modifikation vertreten, deren nicht allzu geglücktes Beispiel Geoffroy Tory in
seinem Werk Champfleury aus dem Jahre 1529 als lettres bullatiques bezeichnet. Der
Name führt somit Verwendung und Herkunft dieser Schrift auf die päpstliche Kanzlei
zurück, und tatsächlich sind in einigen päpstlichen Urkunden mit einer Schrift etwa
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