GOTISCHE MAJUSKEL
Schriftkonstruktion der älteren Form der gotischen Majuskel ist die schreibtechnisch
interessante Behandlung ihrer Buchvariante. Durch die Verwendung einer sehr breit
zugeschnittenen Feder, deren Kante konsequent in der Horizontale gehalten wird,
kommt eine äußerst kontrastreiche Modellierung nach der vertikalen Schattenachse
zustande. Vor allem die Rundzüge werden mit der Zeit an der Stelle ihrer stärksten
Krümmung besonders verstärkt, um dann in haarfeine Bogen überzugehen, deren
Enden entweder spitz auslaufen oder mit einem durch stärkeren Druck der Feder
entstehenden Tintenfleck abgestumpft sind. Die haardünnen horizontalen Serifen und
Querstriche werden leicht oder stärker gebogen und zur ganzen Breite des Schrift¬
bildes oder auch über dieses hinaus verbreitert, wodurch dessen ursprünglich quadra¬
tische Proportionen manchmal beträchtlich breiter geraten. Gewisse Striche, wie z. B.
die Krümmung des linken A-Schaftes, der Verbindungsstrich, mit dem die Bogen des
С, E und S geschlossen werden, der gekrümmte rechte Strich des Y, sind weit über
und unter die Grenzen des Majuskelsystems verlängert. Die Vorliebe des Schreibers,
die offene Schriftzeichnung gewisser Buchstaben mit haarfeinen Verbindungsstrichen
zu schließen, macht sich außer beim С, E und M oft auch beim G, S, U, V, X und Y
geltend. -li
Das so beschaffene Alphabet der älteren Form der gotischen Buchmajuskel war
schon an sich von stark dekorativer Wirkung, und trotzdem wurde es in dieser auf der
Natur des Schreibens fußenden Grundform ohne eine weitere dekorative Behandlung
nur selten verwendet. Diese bestand gewöhnlich in einem noch kontrastreicheren
Strichstärkewechsel, aber dieser Kontrast ließ sich mit der normalen Schreibtechnik,
der flüssigen Schreibweise und einer noch so stark zugeschnittenen Feder nicht mehr
weiter steigern. Es wurde daher unumgänglich notwendig, die fetten Striche zunächst
im Umriß zu ziehen und sie dann erst auszufüllen. Auf gleiche Weise ging man bei der
Modellierung des Anlaufs mancher Serifen und bei der Gestaltung gewisser, übrigens
auch in der sonst noch undekorierten Grundform bereits ornamental empfundener
Züge - z. B. des Q,-Schweifes und der Querbalken des Z - zuwege. Die Umwandlung
der Striche der Schriftzeichnung in vegetabile Ranken und Blätter beschränkte sich
jedoch selten nur auf diese Buchstaben, sondern man umhüllte mit einem so inspi¬
rierten Ornament gewöhnlich die Konstruktion aller Buchstaben des Alphabets dieser
Form der gotischen Majuskel. Eine derartige Methode bot jedoch ornamentalen Mo¬
difikationen fast unbegrenzte Möglichkeiten, und diese waren wahrscheinlich auch
die Ursache ihrer sehr lange andauernden Beliebtheit in ganz Europa, die sich nicht
nur über den ganzen Zeitraum der Gotik, sondern weit in die Renaissance erstreckte.
Deshalb begegnen wir auch im 16. Jahrhundert in kalligraphischen Musterbüchern
ständig Beispielen dieser Form, die hier weniger, dort mehr ornamentiert wird. Eme
solche sehr maßvoll dekorativ gestaltete gotische Majuskel bringt der Franzose Geof¬
froy Tory unter der Bezeichnung lettres tourneures in seinem berühmten Sammelband
Champfleury aus dem Jahre 1529, und eine nicht weniger nüchterne Form dieser
Schrift haben auch die spanischen und italienischen Kalligraphen in ihre Sammlungen
eingereiht. Auch im frühen Buchdruck kommt diese Schrift selbstverständlich sehr
oft in buntfarbigen Initialen vor und bleibt entweder fast ungeschmückt, oder sie tritt
in sehr reich geschmückten Varianten auch einzelner Buchstaben auf.
Der so konzipierten und ornamental inspirierten gotischen Majuskel begegnen wir
nicht nur während der gesamten Renaissanceepoche, sondern manchmal auch in
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186, i8y. Gotische Ornamentalmajuskel. Ludovico Vicentino, 1523.