EINFÜHRUNG
hielt es sich jedoch bei den demokratischen altsemitischen Schriften, bei jener der
tüchtigen phönikischen Händler, die von Anfang an einen ausgesprochen kursiven
Charakter hatte, den sie auch in den Inschriften auf epigraphischem Material und
von monumentaler Bedeutung beibehielt. Zu einer wirklich monumentalen Form ge¬
diehen die altsemitischen Schriften verhältnismäßig sehr spät und eigentlich nur in
vereinzelten südsemitischen mino-sabäischen Inschriften. Einen unzweifelhaft kursiven
Charakter zeigen in ihren ältesten Dokumenten auch die aus dem altsemitischen
Alphabet abgeleiteten Schriften, vor allem die griechische und die lateinische, die
beide ebenfalls erst nach einer langen Zeitspanne zu wirklich monumentalen Inschrif¬
tenmodifikationen mit fester graphischer Ordnung gediehen. Dessenungeachtet bietet
die traditionelle Reihenfolge von den Inschriftenschriften über die Buchschriften zu
den Kursivschriften gewisse Vorteile in der morphologischen Systematik der einzelnen
Schriften verschiedener Kulturbereiche oder Stilepochen, und es wird daher nützlich
sein, wenn auch wir sie in unserer Übersicht beibehalten, allerdings im Bewußtsein,
daß diese Hierarchie keineswegs immer durch den tatsächlichen Entwicklungsverlauf
gerechtfertigt ist.
Auf die Gestaltung der so unterschiedenen Hauptformen der Schrift wirkten jedoch
noch weitere Faktoren ein, die in den einzelnen Kulturbereichen ähnlich oder ver¬
schieden waren. Ein derartiger Faktor war vor allem die herrschende Stilauffassung,
die auf irgendeine Weise in der Schrift zum Ausdruck kam, manchmal sogar so stark,
daß sie Formen hervorbrachte, die sich von jenen der vorhergehenden Stilperiode
grundlegend unterschieden. Von den weiteren Faktoren darf man die Individualität
des Schriftzeichners oder Schreibers, auf den die persönlich gestalteten Abweichungen
zurückzuführen sind, nicht außer Acht lassen. Den Stil- und Entwicklungswandlungen
sowie den individuellen Abweichungen des Schreibens unterlagen die Monumental¬
formen am wenigsten, was übrigens schon aus deren überwiegender Anwendung im
steinernen Material hervorgeht, denn der Stein widersteht den Jahrhunderten und
diente seit der Frühzeit der Geschichte bis auf den heutigen Tag vor allem derartigen
Zwecken. Weit empfindlicher gegenüber den Wandlungen der Stilauffassung waren
die Schriften der beiden anderen Gruppen, weshalb das Studium ihrer Entwicklung
in den nächsten Kapiteln größere Anforderungen stellen wird.
Bei der Beurteilung der verschiedenen Formen in der Entwicklung der Lateinschrift
werden wir noch eine weitere Einteilung zu Hilfe nehmen müssen. Wir werden bei¬
spielsweise finden, daß die Ordnung, in der die einzelnen Buchstaben einer Inschrift
oder Handschrift nebeneinander gesetzt werden, ob sie die gemeinsame Höhe beibe¬
halten oder verschieden hoch sind — daß dies alles nicht ohne Bedeutung ist. Danach
unterscheiden wir nämlich zwei Schriftkategorien: Zur ersten gehören die sog. Ma¬
juskelschriften, die konsequent oder mit unwesentlichen Ausnahmen in ein Grund¬
system zweier horizontaler Linien als Höhenbegrenzung der Schriftzeichnung ein¬
komponiert sind. Als Majuskeln können somit fast alle auf diese Weise angeordneten
monumentalen Lateinschriften, aber nur eine geringe Anzahl ausschließlich älterer
Buchschriften gelten. Eine Majuskel ist natürlich auch unser heutiges großes Alphabet.
In der Gruppe der Buch- und Kursivschriften entwickelte sich auf Grund verschiedener
Ursachen, die wir hier später an entsprechender Stelle erwähnen werden, sehr früh
eine zweite Grundform: die durch ein System von vier Linien umgrenzten Minuskel¬
schriften. Die beiden inneren Linien sind hierbei als Analogie des Majuskelsystems zu
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EINFÜHRUNG
verstehen, denn sie bezeichnen die mittlere Schrifthöhe und enthalten meist den
Hauptteil des Schriftbilds. Die untere dieser mittleren Linien, Fußlinie genannt, ent¬
spricht der unteren Grenze des Majuskelsystems, und zwar dort, wo Majuskeln und
Minuskeln in einer Zeile nebeneinander Vorkommen. Die erste (obere) und die vierte
(untere) Linie des Minuskelsystems bilden die äußerste Abgrenzung jener Ausläufer,
die in der Paläographie nicht genug charakteristisch als obere und untere Minuskel¬
schäfte und in der Praxis des Schriftschaffens als Oberlängen und Unterlängen be¬
zeichnet werden. In der älteren Paläographie wurden die Begriffe Majuskel und Mi¬
nuskel verengt auf gewisse Schriften dieser oder jener Gattung bezogen. Heute wird
jedoch, wenn auch nicht immer ganz folgerichtig, jede Schriftform als Minuskel an¬
gesprochen, die in einem Vierliniensystem konzipiert ist, und von dieser Einteilung
sollten auch die Kursivschriften nicht ausgenommen sein.
Mit den wenigen eingangs flüchtig zusammengefaßten Grundprinzipien und übli¬
chen Einteilungen der Schrift und ihrer Formen sind leider bei weitem nicht alle
Möglichkeiten der Formanalyse und Klassifikation erschöpft. So kommen wir schon
am Anfang der Entwicklung der lateinischen Inschriftenschriften nicht mit der Syste¬
matik der lateinischen Epigraphie aus und werden uns mit einer eigenen und detail¬
lierteren Klassifizierung nach verschiedenen für uns sehr wichtigen, wenn auch von
der Wissenschaft gewöhnlich übersehenen charakteristischen graphischen Elementen
der Schriftzeichnung aushelfen müssen. Ähnlich wird dies in weiteren Entwicklungs¬
stadien bei den Buch- und Kursivschriften der Fall sein, und vor allem die Druck¬
schriften werden uns dazu führen, in vielem von der geläufigen, aber sehr ungenauen
und wenig kennzeichnenden Klassifikationsterminologie, die oft Ursache einer Be¬
griffsverwirrung in dieser Disziplin ist, abzuweichen. Wir werden künftighin auch
außerordentlich feine Einzelheiten der Schriftzeichnung in Betracht ziehen müssen,
ebenso wie die Proportionen des Schriftbilds, die Einteilung in Haar- und Schatten¬
striche und deren Kontrast, die Richtung der Schattenachse, die Art und Weise des
Abschlusses der Striche und die Scheitel der Winkel usw. Mit der Definition der ver¬
schiedenen Prinzipien der weiteren Unterteilungen der Klassifikation nach der Natur
dieser graphischen Elemente und der Komponenten der Schriftzeichnung werden wir
jedoch diese einleitenden Worte nicht mehr belasten, denn zu ausführlichen Erläute¬
rungen wird sich genug und bessere Gelegenheit finden, wenn wir zum ersten Mal
solchen Problemen begegnen.
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