GOTISCHE MAJUSKEL
reichs daraufhinzielte und somit auch ohne den französischen Impuls nur um We¬
niges verzögert mit größter Wahrscheinlichkeit ebenso verlaufen wäre.
Die gotischen Schriften kann man - ebenso wie die der übrigen Phasen der Ge¬
samtentwicklung - nach ihrer grundlegenden graphischen Ordnung und ihrem Ver¬
wendungsbereich in drei formale Hauptgruppen einteilen. In erster Linie findet sich
hier wiederum eine Majuskelschrift der Inschriften, die für monumentale Aufgaben
bestimmt ist, sodann gibt es formale Buchschriften und schließlich geläufige Kursiv¬
schriften. Das Gotische kam jedoch am frühesten und ausgeprägtesten bei den Schriften
der zweiten Gruppe zum Ausdruck: der gotischen Buchminuskel, die für die Ent¬
wicklung und Bestimmung der gotischen Schrift somit die größte Bedeutung hat und
der wir aus diesem Grunde ein weiteres Sonderkapitel widmen. Besondere Aufmerk¬
samkeit verdient auch die Gruppe der gotischen Kursivschriften, die für die stetige
Weiterentwicklung der Schriften des gotischen Typus außerordentlich wichtig war.
Die GOTISCHE MAJUSKEL, die hier die gotische Inschriftenschrift vorstellen sollte,
hat eine verhältnismäßig weniger reichhaltige Geschichte, einen etwas andersgearteten
Charakter und Verlauf der Entwicklung, als man es bei Schriften dieser Klasse er¬
warten könnte. Dessenungeachtet wird es besser sein, sich mit ihr zu befassen, bevor
wir auf das Problem der eigentlichen Anfänge der romanisch-gotischen Stilwandlung,
die sich erstmalig in den Minuskelschriften bemerkbar macht, eingehen.
Anders als bei der gotischen Minuskel kam es erst sehr verspätet zu einer konse¬
quenten Herausbildung des großen Alphabets der gotischen Schrift, und auch in der
Zeit ihrer höchsten Entfaltung entstand keine allgemein gültige Standardform dieser
Gattung. Die gotische Majuskel hatte lange einen vor allem dekorativen Charakter,
denn es war ihre Aufgabe, in den Inschriften die Fläche ornamental zu gliedern und
auszufüllen und im Buch vor allem das Eintönige der mit der standardisierten Mi¬
nuskel beschriebenen Seite durch andere zeichnerische Elemente zu beleben. Aus
diesem Grund können die hier zuvor erwähnten Prinzipien und Merkmale des goti¬
schen Charakters der Schriftzeichnung und -konstruktion größtenteils nicht auf sie
angewendet werden. Als selbständige Schrift kommt das Alphabet der gotischen Ma¬
juskel in der gesamten Entwicklung auch auf epigraphischen Objekten nur selten vor,
und nicht weniger selten ist es in Buchtiteln und Überschriften. Auch später werden
in Büchern, die mit Schriftten des gotischen Typus gedruckt sind, die Titelblätter,
Kapitel und Überschriften meist nur aus Lettern des kleinen Alphabets gesetzt. Diese
Einschränkung ihrer Verwendung muß zweifellos dem Umstand zugeschrieben wer¬
den, daß die gotische Majuskel nur sehr schwer zu lesen und manchmal fast völlig
unlesbar ist und sich insbesondere in der späteren Entwicklung mit ihrer Zeichnung
sehr zu ihrem Nachteil von der Grundkonstruktion der lateinischen Schrift entfernte.
Die römische scriptura monumentalis blieb, wie hier bereits festgestellt wurde, in
den Inschriften das ganze Früh- und Hochmittelalter über mehr oder minder rein
in Gebrauch, allerdings vor allem in Italien, und dort wiederum vor allem in den
Inschriften der römischen Päpste. Aber auch in Italien und umso mehr nördlich der
Alpen überwog auf den epigraphischen Objekten dieser Zeit eine in der Zeichnung
bereits stark deformierte Modifikation der römischen Monumentalschrift, die wir hier
zuvor bei der Analyse ihrer Buchform als romanische gemischte Majuskel charakte¬
risiert haben. Diese erhielt durch weitere Deformationen gewisser in ihrer Konstruk¬
tion bis dahin noch unverletzter Buchstaben seit dem 12. Jahrhundert einen veränder-
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181. Romanisch-gotische gemischte Inschriftenmajuskel, 12.-13. Jahrhundert.