GOTISCHE MAJUSKEL
schrift vor Augen haben, entbehren die Schriften des gotischen Typus nicht der Be¬
deutung für uns und den hier verfolgten Zweck. Schon die Tatsache, daß wir in der
gotischen Schrift Musterbeispiele wahrhaft schöner Formen finden, sollte doch ein
genügender Impuls unseres aufmerksamen Interesses für diesen übrigens erst in jüngster
Zeit ganz verdorrten Zweig am Stammbaum der Lateinschrift sein.
Die karolingische Renaissance ließ für eine Zeitlang die klassischen Traditionen in
Schriftformen Wiederaufleben, die uns ständig umgeben, und es nimmt daher nicht
wunder, wenn die gotischen Schriften uns heute im Vergleich zur Reinheit der ein¬
fachen Form der karolingischen Minuskel kein Fortschritt zu sein scheinen. Doch
wenn wir das neue Stilgesetz in Betracht ziehen, müssen wir zugeben, daß es mit der
gleichen Notwendigkeit zu einer bewußten Wandlung der Schriftform kommen mußte,
weil die karolingische Minuskel zu einem formalen Überbleibsel eines anderen Ge-
schichts- und Stilinhalts geworden war. Der neue Inhalt hatte eine neue Form zur
Folge, und es ist deshalb unrichtig, von einem Verfallscharakter der gotischen Schrift
zu sprechen, wie dies manchmal geschieht. Bildkünstlerisch stellt sie eine Analogie
der gotischen Kunst dar, jener Malerei, Plastik und Architektur, die in der Kunstge¬
schichte schon lange nicht mehr als Verfallsprodukt, sondern als historisch und ästhe¬
tisch gleichwertig mit der Kunst anderer, früher höher eingeschätzter Stilepochen gilt.
Die ablehnende Haltung gegenüber den Schriften des gotischen Typus ist allerdings
schon sehr alt, und die gotische Schrift und Kunst verdankt ihr sogar ihre nicht gerade
zutreffende Bezeichnung. Wie bisher werden wir auch weiterhin zahlreichen Bei¬
spielen einer ähnlich ungenauen Terminologie begegnen und verschiedentlich ver¬
suchen, Abhilfe zu schaffen. Doch der Begriff gotisch ist schon so sehr zum Bestandteil
der Kunstgeschichte geworden, daß es nicht ratsam wäre, ihn durch einen anderen
zu ersetzen, obwohl beispielsweise mediäval, mittelalterlich, eine nicht minder unrich¬
tige Bezeichnung von Schriften des Renaissancetypus, in diesem Fall viel zutreffender
wäre. Die gotische Schrift oder Kunst hat nichts mit den Goten zu tun, obwohl seiner¬
zeit Versuche unternommen wurden, eine Beziehung zwischen der gotischen Schrift
und den germanischen Goten nachzuweisen. Die moderne Paläographie hat diese
Versuche zwar schon vor langer Zeit als nicht genug beweiskräftig abgelehnt, aber
gemeinsam mit der Kunstgeschichte den Begriff gotisch zur Kennzeichnung einer
bestimmten, zeitlich begrenzten und formal charakteristischen Stilepoche des west¬
europäischen Kulturbereichs beibehalten.
Die Bezeichnung gotisch hatte ursprünglich eine herabsetzende Bedeutung, ähnlich
wie in moderner Zeit etwa der Impressionismus oder Kubismus. Dem ästhetischen
Empfinden der italienischen Humanisten war die Kunst nördlich der Alpen viel zu
fremd, als daß sie darin irgendeinen positiven Beitrag und nicht nur eine brutale
Reaktion gegen antike Reminiszenzen erblickt hätten (Friedrich). Sie lehnten sie als
barbarisch ab, wobei ihnen der Name jenes Volkes, das sie für den Untergang des
antiken Rom verantwortlich machten, ein Synonym der Barbarei war. In diesem
herabsetzenden Sinn kommt die Bezeichnung gotisch in Quellen aus der Mitte des
16. Jahrhunderts vor, aber sie ist wahrscheinlich viel älter. Vasari verwendet sie in
seinen Lebensbeschreibungen von Künstlern der Renaissance - Le vite de’piu eccel¬
lenti pittori, scultori e architetti aus dem Jahre 1550 und Wolfgang Lazius in seiner
Abhandlung De gentium aliquot migrationibus libri XII, Basel 1557 (Kirchner).
Doch eine noch ältere und sich direkt auf die Schrift beziehende Verwendung der
326
GOTISCHE SCHRIFT
Bezeichnung gotisch habe ich im ersten Buch Gargantua gefunden - La vie inestimable
du grand Gargantua, geschrieben im Jahre 1534 von François Rabelais und 1535
gedruckt und herausgegeben von François Juste in Lyon. Im Kapitel über Gargantuas
Erziehung lesen wir, daß Meister Thubal Holopherne seinen Zögling gotisch schreiben
lehrte: „Mais notez que, cependant, il lui apprenait à écrire gothiquement“. Im 14.
Jahrhundert wurden manche Formen der gotischen Schrift als litter a formata oder
textus bezeichnet. Ältere paläographische Handbücher nennen dieselben Formen
Mönchsschrift (Wattenbach) oder scholastische Schrift (Guerard). Manchmal wird die
gotische Schrift auch als deutsche Schrift bezeichnet. Sicher mit Recht, wenn es sich
um gewisse späte Handschriften- und Druckformen handelt, aber völlig unberechtigt,
wenn ihr Ursprung gemeint ist. In den deutschen Schriften des gotischen Typus ist
das Gotische allerdings weit folgerichtiger herausgebildet als in den formal freieren
französischen und den verfeinerten und in den Maßverhältnissen ausgewogeneren
italienischen Schriften. Das Gotische ist natürlich in all den mannigfaltigen Formen,
die die gotische Schrift im Laufe ihrer Entwicklung in den verschiedenen nationalen
Bereichen herausbildete, nicht auf gleiche Weise ausgedrückt. Aber alle haben den
unbestreitbar gotischen Stilcharakter gemeinsam, eine gewisse Dekorativität und Dy¬
namik des Duktus, den Spitzbogen und die scharfe Schriftzeichnung, sämtlich Eigen¬
schaften, die sie so ausgeprägt sowohl von den Schriften der vorhergehenden karolin¬
gischen und romanischen Epoche als auch von den ruhigen und klaren Formen des
jüngeren Renaissancezweigs am Stammbaum der Lateinschrift scheiden.
Mit dieser ihrer so ausgeprägten Verschiedenheit des Stils bilden die gotischen
Schriften eine besondere und klar umrissene Kategorie in der Klassifizierung der Ent¬
wicklungsformen der Lateinschrift, wie sie ähnlich auch die gotische Malerei, Bild¬
hauerei und Architektur in der Kunstgeschichte vorstellt. Die Analogie ist hier voll¬
kommen, weshalb man die Versuche, etwas an dieser traditionellen und in der Ge¬
schichte der Kunst und der Lateinschrift so bewährten Periodisierung zu ändern, als
zweifelhaft bezeichnen muß. Die Entwicklung der gotischen Schriften und der goti¬
schen Kunst aus früheren Formen ging natürlich ganz allmählich vor sich, aber dies
ist an der Wende verschiedener Stilepochen die Regel. Wenn beispielsweise die go¬
tische Buchminuskel sich ganz zweifelsfrei unmittelbar und allmählich aus der roma¬
nischen Form der karolingischen Minuskel entwickelt hat, halte ich dies für keinen
genügenden Grund, um die Grenzlinie zwischen der romanischen und gotischen Mi¬
nuskel zu beseitigen und eine vom 9. bis zum 15. Jahrhundert reichende Entwicklungs¬
periode der karolingischen Minuskel zu konstruieren. Dem entsprechen weder Analogien
aus der Kunstgeschichte noch die ausgeprägten und unbestreitbaren Unterschiede
zwischen der Schriftzeichnung der hochentwickelten karolingischen Minuskel und der
entwickelten gotischen Minuskel. Und diese unbestreitbaren Unterschiede sollten -
nicht nur für uns - entscheidend sein, insbesondere wenn es sich um so augenfällige
und graphisch prinzipielle Veränderungen handelt, wie sie gerade in manchen goti¬
schen Buch- und Urkundenschriften Vorkommen, wovon wir uns alsbald überzeugen
werden. Anfangs war diese Stilwandlung natürlich nur ganz allmählich, um schon im
12. Jahrhundert im ganzen westeuropäischen Kulturbereich völlig deutlich zu werden.
Wenn auch unbestritten bleibt, daß diese Wandlung zuerst in Nordfrankreich -
gleichzeitig mit der Entstehung des gotischen Stils überhaupt - auftritt, ist nicht
minder unzweifelhaft, daß die Allgemeinentwicklung überall auch außerhalb Frank-
327