KAROLINGISCHE MINUSKEL
ausgereiften Form der altrömischen Monumentalschrift war nach tausend Jahren das
kleine Alphabet in Gestalt der karolingischen Minuskel hinzugekommen. Es könnte
also überflüssig scheinen, weiterhin der Entwicklung der Lateinschrift durch mehr als
ein ganzes Jahrtausend bis in unsere Zeit zu folgen, aber in eben diesem Jahrtausend
der Entwicklung unserer Schrift kam in den aufeinanderfolgenden Stilepochen eine
ungeheuere Vielzahl formaler Varianten dieses Prototyps unserer Alphabete zustande,
die graphisch so interessant sind, daß sich die Vorentwicklung im Vergleich zum for¬
malen Reichtum der Lateinschrift des Hochmittelalters und der Neuzeit als verhält¬
nismäßig arm erweist. Und weil wir noch heute aus diesem formalen Reichtum
schöpfen, müssen wir der weiteren Entwicklung der Lateinschrift schon im Interesse
der erforderlichen Orientierung in diesem zweifellos in vieler Hinsicht drückenden
Erbteil der Vergangenheit, das einen so großen Teil des Schriftmaterials der modernen
Druckereien und ihres Vorrats an Formen des modernen Schriftschaffens umfaßt,
eine nicht geringere Aufmerksamkeit widmen.
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TEIL III. DIE SCHRIFTEN DER GOTIK
UND DES GOTISCHEN TYPUS
KAPITEL I. DIE GOTISCHE MAJUSKEL
DIE AUCH IM FRÜHMITTEL ALTER lebendig gebliebenen Einflüsse des antiken
Kulturerbes erlahmten erst im Hochmittelalter, in der Stilperiode der Gotik, als der
konzentrierte Inhalt einer ausgeprägten Lebensauffassung eine nicht weniger ausge¬
prägte und universale Stilform geschaffen hatte. Das gesamte soziale, kulturelle und
vor allem religiöse Leben dieses Abschnitts der westeuropäischen Geschichte kommt
fast restlos in der souveränen Stileinheit aller Komponenten der zeitgenössischen Zivi¬
lisation, Kultur und Kunst zum Ausdruck. Es ist dies eine Zeit der höchsten Machtent¬
faltung der Kirche als Erbin des römischen Imperiums im geistlichen Bereich. Eine
Zeit des ritterlichen Lebensgefühls und des christlichen Spiritualismus, des Aufschwungs
der Klöster und der wachsenden politischen Bedeutung einer neuen sozialen Klasse,
des Bürgertums. Es ist dies anderseits schon eine Zeit des sittlichen Verfalls der Kirche,
der Eigenmächtigkeiten feudaler Grundherren und der Unterdrückung des Bauern¬
standes, zugleich aber auch der ersten Kundgebungen des Widerstands, einer Bewe¬
gung für die religiöse, sittliche und soziale Erneuerung. Der Glaube an Gott und an
ein Leben nach dem Tode, die Religion und der Gottesdienst stehen im Mittelpunkt
des gesamten Geschehens als dessen bedeutendste Triebkraft und als Ziel der in den
Klöstern und an den Fakultäten der eben entstehenden Universitäten angestrebten
Gelehrsamkeit, ebenso wie der in den klösterlichen Zentren thematisch und formal
gleichgerichteten Malerei und Bildhauerei, und vor allem der Architektur der zum
Himmel aufragenden gotischen Kathedralen. Die Menschen blicken nach oben, zum
Wohnsitz Gottes und der Heiligen, zum Schauplatz der Seligkeit nach dem Tode.
Diese Richtung der inneren Sicht als vertikale Verbindungslinie zwischen Himmel und
Erde und grundlegende Konstruktionsachse der gotischen Baukunst, wird auch in den
hochentwickelten Hauptformen der gotischen Schrift als Antithese jener weltlichen
Horizontale hervorgehoben, die die Lebensauffassung der heidnischen antiken Ver¬
gangenheit charakterisiert.
Außer im Deutschen Reich und den unmittelbar im Einflußbereich seiner Kultur
und politischen Macht liegenden Ländern knüpfte die Entwicklung der Lateinschrift
nach dem Erlahmen des gotischen Stils überall früher oder später wieder an die vor¬
gotischen Entwicklungsformen an. Das Zeitalter der Gotik kann daher in der Geschichte
der Lateinschrift als eine Art Stilintermezzo gelten, das im wesentlichen keinen Ein¬
fluß auf die Formgebung der nachgotischen und modernen Lateinschrift hatte. Aus
dem Gesichtswinkel unseres spezifischen Interesses könnte es demnach überflüssig
scheinen, sich überhaupt oder in größerem Umfang mit Formen zu befassen, die sich
außerhalb der direkten Entwicklungslinie zu der heute geschriebenen und gedruckten
Schrift befinden. Doch auch wenn wir nicht die vollständige Entwicklung der Latein-
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