KAROLINGISCHE MINUSKEL
vorgehoben wurden, ebenso wie durch eine starke Verkürzung der Schäfte der Buch¬
staben b, d,h,l- sie ist besonders gut sichtbar in der fast vollkommenen und beispiel¬
haften Schrift dieses Typus in der hier reproduzierten norditalienischen Handschrift
vom Beginn des 12. Jahrhunderts (Abb. 180) -, gab es noch eine schmale Form der
fucnvt oaxhuiruGVtquern fecundum
prefidem pofV fe facere difponebat -
eundem facenec plenum atq> perfeem-
babentem inffc ec digjmaxem qua. prt
celUreu-ec poreffcarem qua cuneas
/<9о. Homilien vom Beginn des 12. Jahrhunderts. Detail.
karolingischen Minuskel, die offenbar durch den Einfluß des Urkundenschreibens
auch in den Buchhandschriften Eingang fand. In einer derartigen Schrift pflegt das
Schriftbild jedoch keineswegs besonders schmal gehalten, sondern nur im Verhältnis
zu den stark verlängerten Schäften empfindlich verkleinert zu sein. Im übrigen handelt
es sich um keine irgendwie bemerkenswerte Schrift; mit ihrer dünnen, unschattierten
Zeichnung und den häufig vorkommenden archaischen Formen der Buchstaben a und
n hat sie es weit zum hohen Niveau der schönen Minuskel unserer zuvor angeführten
Beispiele. Gewöhnlich kommen solche Abarten der karolingischen Minuskel in den
Marginalien der Buchhandschriften vor, wo gewissenhafte oder kritische Leser ihre
Kommentare und Glossen anbrachten. Von da ist der Name glossala abgeleitet, der
jedoch ähnliche minderwertige Varianten einer jeden formalen Buchschrift und nicht
nur die der karolingischen Minuskel oder gar ihrer romanischen Endform bezeichnet.
Eine andere Abweichung von deren hochstehendem Standard stellt die Schrift ge¬
wisser Handschriften dar, in denen die Verwendung einer besonders breit zugeschnit¬
tenen Feder eine breite fette Form der karolingischen Minuskel entstehen ließ, wie sie
beispielsweise die bereits im 9. Jahrhundert in Trier geschriebene Berliner Handschrift
der Texte des hl. Hieronymus zeigt. Auch diese formale Variante mit ihrem viel zu
kontrastreichen Strichstärkewechsel, die noch in der Zeit der höchsten Entfaltung
der karolingischen Minuskel häufig vorkommt, kann nicht mit deren ausgeglichener
Zeichnung und ruhiger runder Standardform verglichen werden. Seit dem 11. Jahr¬
hundert läßt der Duktus der karolingischen Minuskel jedoch andere und ernstere
Anzeichen ihrer formalen Wandlung erkennen. Die zu jener Zeit charakteristische
und bis dahin überwiegende Rundheit ihrer Schriftzeichnung beginnt in Westeuropa
einer stärkeren Betonung der Vertikale, Zuspitzung der Serifen und vor allem einer
Tendenz zur Brechung der Bogenlinien zu weichen. Nur die italienischen Schrift¬
schulen halten an der ursprünglichen Form fest. Die auf diese Weise Gestalt an-
322
SPÄTFORMEN DER KAROLINGISCHEN MINUSKEL
nehmende eckige Form der karolingischen Minuskel stellt jedoch bereits die Übergangs¬
form zur Schrift einer neuen Stilepoche dar, die gleichzeitig in Nordfrankreich entsteht.
Deshalb wollen wir ihr erst später im Zusammenhang mit der Frage des Ursprungs
und der ersten Entwicklungsstadien der gotischen Schriften gebührende Aufmerksam¬
keit widmen.
In den böhmischen Bibliotheken finden sich auch verschiedene interessante Denk¬
mäler der karolingischen Minuskel. Deren ältestes ist ein stark beschädigtes Perga¬
mentfragment eines lateinischen Psalters von der Wende des 8. zum 9. Jahrhundert
in der Prager Universitätsbibliothek. Die Handschrift ist mit einer kontrastreichen
Minuskel mit keulenförmigen Oberlängen und einer bislang noch kursiven Form des
Buchstaben a - dem typischen Duktus der Frühzeit - geschrieben. In derselben Biblio¬
thek wird ein Kodex aus dem Besitz des Jan Rokycana verwahrt : S. Ioannis Chrysostomi
Expositio Evangelium von der Wende des 9. zum 10. Jahrhundert. Dazu kommt das
bereits erwähnte Quadrivium des Boethius aus dem 11. Jahrhundert. Aus dem 10.
Jahrhundert stammt das Evangeliar der ehemals Lobkowicz’schen Bibliothek in Roud-
nice. Eine karolingische Minuskel großen Formats finden wir sodann in einem Evan¬
geliar aus dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts vor, das sich in der Bibliothek des
Prager Domkapitels befindet (Tafel LXVI). In seinem Lehrbuch der lateinischen
Paläographie erwähnt G. Friedrich noch die in der Bibliothek des Klosters Strahov
in Prag verwahrte Handschrift der Chronik des Jarloch vom Anfang des 13. Jahr¬
hunderts als Beispiel für die nur allmählich nach Osten fortschreitende Gotisierung
der karolingischen Minuskel, die sich in Böhmen noch so spät ihre verhältnismäßig
reine ursprüngliche Zeichnung bewahrt habe. Doch das Spitze und Eckige der Schrift¬
zeichnung dieser Handschrift ist trotzdem bereits so ausgeprägt, daß man der Ansicht
G. Friedrichs nicht vorbehaltlos zustimmen kann. Mit ihrem Gesamtcharakter gehört
diese Schrift bereits einer neuen Stilepoche an, und darum wäre es besser, sie erst
unter den Beispielen der frühen Formen gotischer Schriften zu nennen. An dieser
Stelle sei jedoch noch die verhältnismäßig schmale karolingische Minuskel einer für
die Geschichte Böhmens außerordentlich bedeutsamen Handschrift erwähnt: derWol-
fenbütteler Gumpoldslegende vom hl. Wenzel (Tafel LXV), die vor 1006 für die
Fürstin Emma, die Gemahlin Boleslavs II., vermutlich in irgendeinem böhmischen
Kloster geschrieben wurde.
Mit der Gotisierung des Duktus, deren erste Anzeichen - wie bereits gesagt - in der
Zeichnung der karolingischen Minuskel schon zur Zeit ihrer höchsten Entfaltung im
11 .Jahrhundert auftreten, beginnt auch der Ruhm dieser schönen Schrift zu erlöschen,
und es folgt ihr allmählicher Verfall und schließlich ihr Untergang. Sie hatte ihre Sen¬
dung erfüllt, die Entwicklung der Lateinschrift für Jahrhunderte wieder vereinheit¬
licht und war selbst wiederum zur Grundlage der weiteren Entfaltung nicht nur der
lateinischen Buch-, sondern auch der Urkundenschrift geworden. Wir haben schon
zuvor den Einfluß festgestellt, den die karolingische Minuskel auf die Gestaltung der
Schrift verschiedener nationaler Bereiche ausübte und wie sie auf das Schriftschaffen
der päpstlichen und kaiserlichen Kanzlei und auch anderer Hofkanzleien einwirkte.
Sie ist demnach für die Entwicklung unserer Schrift von unschätzbarer und eigentlich
beispielloser Bedeutung, denn mit ihr hatte diese Entwicklung im wesentlichen schon
im 9. Jahrhundert einen Gipfel erreicht. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden
Alphabete unserer Schrift Gestalt angenommen, denn zum älteren großen in der
323