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HOCHFORM DER KAROLINGISCHEN MINUSKEL
(Abb. 174) und sogar mit der dritten Variante in dem hier reproduzierten Alphabet
ihrer hochentwickelten Form überein. Schon aus der Zeichnung des ersten Buch¬
stabens des Alphabets können wir also den Schluß ziehen, daß man die Entstehung
der karolingischen Minuskel nicht ausschließlich von der Halbunziale ableiten darf.
Aus dieser stammen jedoch andere Buchstaben der frühkarolingischen Minuskel, näm¬
lich das mit keulenförmigen Oberlängen versehene b, d, h, / und vor allem das g, das
übrigens auch in der Halbunziale manchmal bereits in geschlossener Form vorkommt.
Von da rührt auch die Form des e mit geschlossener Schlinge her. Das Majuskel-N
der Halbunziale taucht zwar noch hier und dort auch in der frühkarolingischen Mi¬
nuskel auf, aber typisch für sie ist das n in Minuskelform, wie wir ihm in den Modifika¬
tionen der jüngeren römischen Kursiv ständig begegneten. Mit der Zusammensetzung
ihres Alphabets ist die karolingische Minuskel somit eine typische Schrift von ge¬
mischtem Typus, weshalb man ihre Herkunft nicht unmittelbar von einer einzigen
älteren lateinischen Manuskriptschrift ableiten kann. Also konnte sie nicht auf Grund
einer natürlichen und kontinuierlichen Entwicklung zustande gekommen, sondern
muß aus Elementen verschiedener Provenienz künstlich zusammengestellt worden
sein, wobei deren Mehrzahl aus der Halbunziale geschöpft war. Es handelt sich dem¬
nach um eine sozusagen künstlich erfundene Schrift, die jedoch vermutlich nicht das
Ergebnis einer glücklichen Entdeckung oder Eingebung eines Einzelnen oder einer
einzigen Schreibschule, sondern der gleichgerichteten Bemühungen verschiedener
Zentren des Schreibwesens jener Zeiten war. Das Bedürfnis nach einer neuen Schrift
machte sich damals allgemein und dringlich geltend, und im gegebenen Zeitpunkt
konnte es durch nichts anderes befriedigt werden als durch eine weitere gemischte
Schrift von der Art der Halbunziale, die bekanntlich selbst eine typische gemischte
Schrift darstellt. Sie wurde denn auch zum Ausgangspunkt der in diese Richtung
zielenden Versuche; die Zusammensetzung ihres Alphabets wurde einer Revision un¬
terzogen und durch Elemente verbessert, die man aus anderen Schriften übernahm.
Die karolingische Minuskel kann somit als eine künstliche und freie Schreibparaphrase
der zeitgenössischen Halbunziale bzw. der primitiven Minuskel definiert werden. Es
unterliegt auch keinem Zweifel, daß in diesem Prozeß neben praktischen Gesichts¬
punkten auch ästhetische Rücksichten eine wichtige Rolle spielten.
Wenngleich die karolingische Minuskel also aus verschiedenen Schriften der fernen
oder nahen Vergangenheit abgeleitet ist, stellt sie deshalb eine um nichts weniger
neue, mit ihrer graphischen Wirkung von allen älteren gänzlich verschiedene und zu
ihrer Zeit moderne Schrift dar. Zu dieser neuen Wirkung trägt keineswegs, wie wir
feststellen konnten, die neue Zusammensetzung des Alphabets, sondern einzig und
allein die graphische Behandlung bei. Sie ist das Werk einer Meisterschaft der Schreib¬
kunst, die ihr jenen Adel der Proportionen, des Duktus und der Einzelheiten der
Zeichnung verliehen hat, dem wir vor den Beispielen ihrer Blüte in der romanischen
Epoche Bewunderung zollen. Diese schöne, vollendete Rundform der karolingischen
Minuskel, wie sie in Handschriften des 11. Jahrhunderts vorkommt, z. B. dem aus
dieser Zeit stammenden Quadrivium des Boethius in der Prager Universitätsbibliothek
(Tafel LXIV), kann als ihr Standardtypus gelten, als höchste Form der kunstfertigsten
Schreiber und der kostbarsten, reich illuminierten Handschriften, aber sie war nicht
die einzige Form der karolingischen Minuskel. Neben dieser runden Minuskel, deren
Proportionen manchmal noch durch eine gewisse Horizontalisierung des Duktus her-
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