KAROLINGISCHE MINUSKEL
chen der sehr kleine Bauch des a und die miniaturhaft kleine Schlinge des e. Der Schaft
der Buchstaben / und s endet nunmehr bereits fast immer auf der Fußlinie. Ein wich¬
tiges Detail ist auch die geringfügige Verlängerung des ¿-Schaftes über den schon
horizontalen Querstrich hinaus. Einen festen Platz im Alphabet der karolingischen
Minuskel erhalten vom n. Jahrhundert an das am Ende eines Wortes verwendete
runde s und das v. Manchmal begegnen wir sogar schon dem Buchstaben w, der zur
Niederschrift gewisser Namen in den nationalen Sprachen diente. Häufig ist seit der
Zeit die Form j am Ende eines Wortes, inzwischen allerdings noch mit der Bedeutung
i. Das Gesamtbild des Alphabets der hochentwickelten karolingischen Minuskel schlie߬
lich ist durch quadratische Proportionen und die Rundform des eigentlichen Schrift¬
bildes gekennzeichnet, ebenso wie durch die feinfühlig bemessene Schaftlänge der
Buchstaben b, d, h, l und den ausgeglichen maßvollen Strichstärkewechsel in der
sonst ausgeprägten Modellierung der Schriftzeichnung nach einer konsequent einge¬
haltenen schrägen Schattenachse. Das Alphabet ergänzen nicht allzu viele, aber in der
Zeichnung feinziselierte Ligaturen, von denen sich manche in dieser vollendeten gra¬
phischen Form bis heute erhalten haben. Von den älteren Abkürzungen lenkt die
ebenso vollendet gezeichnete der Silbe pro unsere Aufmerksamkeit auf sich, und als
nicht weniger geglückt muß auch die neue Abkürzung des Diphtongs ae gelten, die
nunmehr als ein в mit angehängtem Akzent in Gestalt eines kleinen, aber zuweilen
auch stark gestreckten с geschrieben wird. Die Worttrennung ist - ebenso wie die
Interpunktion - bereits die Regel, und seit Ende des 11. Jahrhunderts werden Worte
am Ende der Zeile nicht selten durch ein Abteilungszeichen geteilt. Über dem г er¬
scheint immer öfter ein Akzent in Gestalt eines dünnen Strichs ; er wird dort gesetzt,
wo - wie etwa in der Nachbarschaft der Buchstaben m, n und и - die Unterschiedlich¬
keit des i hervorgehoben werden mußte. Kurz, die karolingische Minuskel ist hier in
der Tat bereits zu einer vollkommenen und schönen Schriftform entfaltet, die sich
praktisch in nichts mehr von unserem kleinen Buchschriftalphabet unterscheidet.
Da wir endlich die hochentwickelte karolingische Minuskel in ihrer in jeder Hin¬
sicht vollendeten Form vor Augen haben, wollen wir wieder auf das Problem ihres
Ursprungs zurückgreifen und versuchen, es durch eine entsprechend orientierte Ana¬
lyse ihres Alphabets und den Vergleich mit Alphabeten anderer Schriften, die wir
zuvor in der Entwicklung der handschriftlichen Lateinschrift seit ihren Anfängen
kennengelernt haben, zu lösen. Gleich zu Beginn stoßen wir im Alphabet auf die
Frage nach der Herkunft des typischen a mit kleinem Bauch, das mit seinen Ausmaßen
gewöhnlich nicht über die mittlere Minuskelhöhe hinausreicht. Dieser a-Form be¬
gegnen wir von Anfang an in mehr oder minder vollendetem Duktus bei der früh¬
karolingischen Minuskel, weshalb sie als kennzeichnendes Merkmal dieser Schrift
durchaus Schlüsselbedeutung zu haben scheint. Diese Form des Buchstabens a kommt
in keiner anderen gleichzeitigen Buch- oder Urkundenschrift vor, und vor allem nicht
in der Halbunziale. Daraus geht hervor, daß wir ihre Herkunft nur in der römischen
Unziale suchen können, wo dieser Buchstabe zwar ganz anders geformt zu sein scheint,
aber einen analogen Duktus aufweist, was das Wichtigste ist. Die Entwicklung zum
a-Bauch aus der Unziale ist übrigens schon bei gewissen gemischten Schriften des 3.
und 4. Jahrhunderts erkennbar; z. B. im Alphabet der Handschrift De judiciis (Abb.
104) stimmt die zweite Variante des a tatsächlich fast völlig mit der ersten und zweiten
Variante dieses Buchstabens in unserem Alphabet der frühkarolingischen Minuskel
318
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ij8. Frühe Form der karolingischen Minuskel, 8. Jahrhundert.
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