KAROLINGISCHE MINUSKEL
sorgfältig genug angefertigten Feder. In gewissen lokalen und individuellen Abwei¬
chungen der Handschrift des Schreibers unterscheidet sich selbstverständlich auch die
hochentwickelte karolingische Minuskel vom klassischen Formstandard, wie ihn schon
im 9. Jahrhundert z. B. die Schrift der zweiten Bibel Karls des Kahlen in der Pariser
Bibliothèque Nationale (Tafel LXII) vorstellt. Die karolingische Minuskel dieser nicht
lange nach dem Jahre 865 in einem nordfranzösischen Skriptorium, vielleicht Reims
oder St. Denis, geschriebenen und graphisch hervorragenden Handschrift ist tatsäch¬
lich in jeder Hinsicht bewundernswert. Ihr sehr maßvoll schattiertes Schriftbild zeigt
vollendete Proportionen und wird überdies mit einer so souveränen Schreibmeister¬
schaft reproduziert, daß wir die Schrift unseres Beispiels auf den ersten Blick fast für
eine Druckschrift halten könnten, wenn die Zeilen rechts nicht verschieden lang wären.
Die reproduzierte Seite dieser Handschrift läßt vor allem die charakteristisch runde
Schriftzeichnung erkennen, und diese runde Form, das Vorherrschen der Kreise und
Kreisbögen, ist auch typisch für die Haupt-, die Standardform der hochentwickelten
karolingischen Minuskel im folgenden 10. und insbesondere im 11. Jahrhundert, einer
Zeit also, in der der romanische Stil Gestalt annahm, und für diesen ist der Kreisbogen
nicht minder typisch. So kündigte die karolingische Minuskel gewissermaßen diese
universale Stilepoche Westeuropas an, um sie im Bereich des Buchschaffens zur Voll¬
endung zu führen. Darum-wird sie auch als romanische Minuskel, littera romana oder nur
Romana (Semkowicz, Spunar) bezeichnet, was zweifellos berechtigt scheint, wenn ihr
Stilcharakter ausgedrückt werden soll, aber überflüssig ist, weil es sich um eine Schrift
ein und desselben schon zuvor völlig ausgereiften Typus handelt. Dies trifft auch dort
zu, wo beispielsweise die untere Partie der Zeichnung des g noch nicht ganz geschlossen
ist, wie in dem außerordentlich schönen Benedictionale des hl. Athelwold aus den
Jahren 971-984 (Tafel LXIII). Inzwischen breitete sich die karolingische Minuskel
allmählich über ganz Westeuropa aus, um in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts
zur offiziellen Schrift des gesamten fränkischen Reiches und auch in Italien eingeführt
zu werden. Im 10. Jahrhundert drang die karolingische Minuskel auch in die ost¬
deutschen Skriptorien, nach Böhmen, in die Niederlande und nach England und
zu Beginn des 11. Jahrhunderts auf die Pyrenäenhalbinsel vor, wo sie allmählich die
heimische westgotische Schrift verdrängte.
Im il. Jahrhundert trat die karolingische Minuskel somit in eine Epoche ein, die
allgemein als Scheitelpunkt ihrer Entwicklung gilt. In graphischer Hinsicht wurde die
hochentwickelte karolingische Minuskel, wie wir sie in der zweiten Bibel Karls des
Kahlen kennengelernt haben, in nichts wesentlichem mehr vervollkommnet, wenn
wir von einigen weniger wichtigen, graphisch aber bedeutsamen Details der Schrift¬
zeichnung absehen, deren Anzeichen sich übrigens viel früher bemerkbar machen und
die nicht einmal in der Blütezeit immer folgerichtig zur Geltung kommen. Ein der¬
artiges Detail im Standardalphabet der karolingischen Minuskel der Blütezeit (Abb.
179) ist z. B. die schon seit dem 9. Jahrhundert sich anbahnende Umgestaltung der bis
dahin keulenförmigen Oberlängen der Buchstaben b, d, h, l; ihr nunmehr gleichmäßig
verstärkter Strich wird mit dreieckigen Serifen abgeschlossen, die später manchmal
ziemlich stark zugespitzt sind. Erst seit dem 10. Jahrhundert begegnen wir einer
weiteren Verbesserung: der Schaft des Buchstabens a wird aufgerichtet. Doch auch in
sehr späten Handschriften kommt dieser Strich noch geneigt vor und schließt mit der
Vertikale einen mehr oder weniger spitzen Winkel ein. Die Bäuche der Buchstaben
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HOCHFORM DER KAROLINGISCHEN MINUSKEL
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176. Liber diurnus aus den Jahren um 780-733. Detail.
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coptoßlxczifcffbjerrr-Jpueri/ur' wiucrciminoculo- idquodipfX- 177. Sulpicius Severus, Das Leben des hl. Martin. Tours 804-834. Detail. b, d, p und q sind in allen besseren Handschriften bereits geschlossen. Das g kommt З17
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zwar nicht selten auch mit offener Zeichnung vor, aber gewöhnlich wird wenigstens
der obere Bauch und sehr oft auch der untere geschlossen, wie das bei der heutigen
Minuskelform dieses Buchstabens der Fall ist. Zum typischen Merkmal wird desglei-