EINFÜHRUNG
nend - in verschiedenen ethnischen und Kulturzentren unterschiedliche Rassen- und
Volkscharaktere, Begabungen und äußere Bedingungen des nationalen Lebensmilieus
wie Klima, geographische Lage, geologische Bodenstruktur u. a., Ursachen einer ver¬
schiedenartigen Gestaltung der Schriftzeichen und damit einer weiteren Differenzie¬
rung der Schriftformen. So wie die bildenden Künste in verschiedenen ethnischen
Bereichen einen verschiedenen wesenseigenen Charakter entwickelten, hat auch die
Schrift in jeder dieser Regionen ihre bezeichnende graphische Ausdrucksweise, selbst
wo es sich um Schriften desselben inneren Systems handelt. Die Unterscheidung der
Schriftformen ging jedoch noch weiter: innerhalb jeder Schrift bildeten sich weitere,
mehr oder minder voneinander abweichende Formen heraus, bedingt von einer gan¬
zen Reihe von Faktoren, unter denen Charakter und Zweckbestimmung der schrift¬
lichen Aufzeichnung an vorderer Stelle standen. Für Inschriften von monumentaler,
sakraler, Dedikations- und ähnlicher Bestimmung stabilisierte sich gewöhnlich eine
andere Form als für literarische Zwecke, und eine andere wiederum diente der ge¬
läufigen Korrespondenz und für persönliche Notizen. Die Entstehung dieser speziellen
Schriftkategorien beeinflußte jedoch noch ein weiterer wichtiger Faktor: das Material.
Seine physikalischen Eigenschaften und die Schwierigkeiten, die bei seiner Bearbeitung
überwunden werden mußten, waren von bestimmender Bedeutung für den graphi¬
schen Charakter, die Elemente und die Zusammensetzung der Schriftkonstruktion.
Als Schreibmaterial dienten im Laufe einer langen Entwicklung in verschiedenen
Kulturbereichen und -epochen zahlreiche Stoffe von unterschiedlicher Art, praktisch
fast alles, was die auf eine bestimmte Weise fixierten Schriftzeichen in der notwendigen
Zeitspanne vor der Auslöschung zu bewahren vermochte. Man schrieb auf Materialien
pflanzlichen Ursprungs - Blätter, Bast, Baumrinde und Holz -, auf Stoffe tierischer -
wie Leder, Bein und Wachs - und anorganischer Herkunft wie Lehm, Stein, Metall
usw. Beschriftungszwecken dienten auch Textilien und andere künstliche Stoffe, von
denen in der Geschichte der Lateinschrift die Papyrusblätter und -rollen, das Perga¬
ment und schließlich das Papier die größte Bedeutung gewannen. Die Anforderungen,
die eine dauerhafte schriftliche Aufzeichnung stellte, beeinflußten wiederum die Wahl
des Materials, das eine entsprechende Bearbeitungstechnik und Schriftform verlangte.
Es ist durchaus natürlich, daß der Meißel des Steinmetzen, mit dem die Inschrift
langsam und vorsichtig eingegraben wurde, eine andere Form der Schrift voraussetzte
als der Pinsel des Malers oder die Rohrfeder, der Federkiel oder der Stilus des Schreibers.
Die Materialwahl war manchmal den besonderen Bedingungen eines Siedlungsgebiets
unterworfen, was dazu führen konnte, daß die Schriftzeichnung sich in anderer Rich¬
tungweiterentwickelte. Einen ganz eigenartigen Charakter erhielt die Schrift aus diesen
Gründen zum Beispiel in Mesopotamien, wo ein relativer Mangel an Stein bzw. die
Schwierigkeit seines Transports zur Blüte der keramischen Technik führte. Lehm war
in diesem Land der Flußanschwemmungen das am leichtesten zugängliche Material,
und die alten Sumerer verwendeten ihn sehr früh auch zu Schreibzwecken. In die
geglättete Fläche ungebrannter Lehmplättchen ritzten sie mit einem dreikantigen
Stäbchen Schriftzeichen ein, was allerdings sehr schwierig war, wenn es sich um runde
Formen handelte. Darum gaben sich die Sumerer alsbald damit zufrieden, ihre Keil¬
schriftzeichen nur aus geraden Zügen zusammenzusetzen. So gaben sie Anstoß zur
Entwicklung einer ganzen Gruppe von Schriften, die außerhalb dieses Landstrichs
nicht Vorkommen. Wenn wir die Formentwicklung der Lateinschrift studieren, unter¬
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EINFÜHRUNG
scheiden wir epigraphische, d. i. beständige Beschreibstoffe archäologischer Herkunft
und natürlicher oder künstlicher Art, mit denen sich die Epigraphie, eine historische
Hilfswissenschaft, befaßt, und paläographische Materialien, die weniger beständig und
insgesamt künstlichen Ursprungs sind. Sie wurden für literarische und urkundliche
Schriftdenkmäler verwendet, mit denen sich eine andere historische Hilfswissenschaft
befaßt, die lateinische Paläographie.
Ein weiterer höchst bedeutsamer Faktor, der oft die Wahl des Materials bestimmte,
war die für die schriftliche Aufzeichnung benötigte oder verfügbare Zeit. Der Einfluß
dieses Faktors machte sich in der gesamten Entwicklung der Schrift als Konflikt
zweier entgegengesetzter Tendenzen geltend, die für den Verlauf dieser Entwicklung
ausschlaggebend waren. Die erstere ist das Streben nach der schönen Ausführung und
Deutlichkeit der Schriftzeichen, also nach einem Maximum an formaler Reinheit und
Lesbarkeit, während die zweite, mit der ersten schwer zu vereinende, die Forderung
maximaler Schnelligkeit ist. Ursprünglich wurde - auch dort, wo bei der schriftlichen
Aufzeichnung die Zeit nicht die wichtigste Rolle spielte - jedes Zeichen für sich allein
und in der reinsten erreichten Form hingesetzt. Doch sobald die Aufzeichnung schnel¬
ler erfolgen mußte, wurde es notwendig, sich mit einer geringeren Sorgfalt abzufinden
und gewisse Änderungen, Deformationen und Verbindungen der Grundelemente der
Schriftzeichen hinzunehmen. Darunter litt allerdings sowohl die Reinheit der Schrift¬
zeichnung als auch die Lesbarkeit der Schrift. Auch die Zeit wirkte also neben dem
Material und der Zweckbestimmung des schriftlichen Vermerks in jeder Entwicklungs¬
phase nahezu aller Schriften an deren Unterscheidung in jene hier bereits erwähnten
drei Hauptgattungen mit. Die erste dieser drei Schriftarten ist stets durch den Monu¬
mentalcharakter der Inschriften in Stein oder anderen beständigen Stoffen charakte¬
risiert, die zweite ist die formale Buchschrift, die noch verhältnismäßig langsam und
mit entsprechender Sorgfalt geschrieben wurde, und die dritte schließlich die kursive,
mehr oder weniger unformelle Schrift der Urkunden und des Alltagsgebrauchs.
Die so festgesetzte morphologische Reihenfolge der wichtigsten formalen Modifika¬
tionen wird traditionell mit deren Genealogie identifiziert, ihrer Abfolge im Verlauf
der Entwicklung, aber das ist nicht in allen Fällen das Richtige. Nicht alle hand¬
schriftlichen Buch- und Kursivschriften haben sich aus primären monumentalen In¬
schriftenformen entwickelt, sondern es waren oft im Gegenteil Kursivschriften, mit
denen die formale Entwicklung einsetzte. Warum sich dies so oder anders verhielt,
können wir nur mit Hilfe der soziologischen Interpretation erklären. Von diesem Ge¬
sichtspunkt aus kann man die ältesten Schriften verschiedener Kulturbereiche in zwei
Schriftgattungen einteilen, deren erste ausschließlich komplizierte ideographische
Schriften umfaßt, die als aristokratisch-theokratische definiert werden können. Ihre ge¬
sellschaftliche Wirkung war mit Absicht auf den äußerst engen Umkreis der privile¬
gierten herrschenden Schicht begrenzt, wodurch auch ihre Anwendung stark einge¬
schränkt war. Außer der notwendigen Verwaltung des königlichen Palastes und Tempels
dienten sie eigentlich nur dem Kult der Götter und vergöttlichten Despoten. Die al¬
phabetischen demokratischen Schriften der zweiten Gruppe dienten demgegenüber von
Anfang an den Bedürfnissen breiter Volksschichten, insbesondere dem Handel. In den
aristokratisch-theokratischen Schriften wie in der ägyptischen nahm die Entwicklung
in der Tat von monumentalen Formen ihren Ausgang, aus denen sich später eine
handschriftliche Literaturform und eine geläufige Kursivform entwickelte. Anders ver-
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