с
г
rrm
г fer и
о
u%
/75. Römische Minuskel, 8. Jahrhundert
3*4
FRÜHKAROLINGISCHE MINUSKEL
außerhalb des fränkischen Reiches zu einer Schrift vom Typus der karolingischen
Minuskel hinzielte. Die Priorität in dieser Entwicklung wurde ihr jedoch völlig zu
Unrecht zugeschrieben, weil gleichzeitig und zuvor auch andere Frühformen der
neuen Minuskel entstanden.
Viele charakteristische Elemente der frühkarolingischen Minuskel kommen immer
wieder auch in Handschriften des 9. Jahrhunderts vor, was ein Zeugnis dafür ist, wie
schwer die Schreiber traditionelle Gewohnheiten abstreiften. Solchermaßen unaus-
gereift war bis dahin beispielsweise auch die Minuskel von Tours, obwohl sie bereits
einen beträchtlichen Fortschritt in der Stabilisierung und graphischen Ordnung der
Schriftzeichnung erkennen läßt. Das zeigt unser Beispiel aus der Quedlinburger Hand¬
schrift Leben des hl. Martin von Sulpicius Severus (Abb. 177), die Adabald, ein her¬
vorragender Schreiber der Schule von Tours, zwischen 804-834 schrieb. Doch auch
hier hat sich die Schriftzeichnung noch nicht ganz aufgerichtet und das g kommt
immer noch in der Halbunzialform vor. Von Anfang an kann man in den karolingi¬
schen Handschriften einen Fortschritt in der getrennten Schreibweise einzelner Worte
und in der Einführung von Interpunktionen bei gleichzeitiger Abnahme der Ligaturen
feststellen, von denen weiterhin nur die Verbindungen ct, et, rt und st beibehalten
werden. Oft wiederholte Silben und Worte kommen weiter häufig gekürzt vor, aber
solche Abkürzungen werden maßvoller und methodischer verwendet.
Manche Handschriften, die noch aus der Frühzeit der karolingischen Minuskel
stammen, zeichnen sich jedoch bereits durch eine bewundernswert hoch entwickelte
Schrift aus, wenngleich in dieser natürlich gewisse Kennzeichen der unvollendeten
Entwicklung immer noch anzutreffen sind. So beschaffen ist das zweifellos schöne
Alphabet des Liber comitis des hl. Hieronymus in einer Handschrift, die im Kloster
Corbie zu einer Zeit entstand, als es der Abt Maurdramnus in den Jahren 772-780
verwaltete (Abb. 178). Der Zusammensetzung nach ist diese Schrift allerdings immer
noch eine typische Frühminuskel, Praekarolina. Die Oberlängen der Buchstaben b, d,
h, l verbreitern sich noch keulenförmig nach oben, die Unterlängen desj^ und s werden
weiterhin ziemlich stark unter die Fußlinie verlängert und auch das g zeigt noch
seine offene Form, aber das n tritt nur in seiner Minuskelform in Erscheinung. Die
Schrift ist mit einer sehr breit zugeschnittenen Feder geschrieben und daher noch
typisch dunkel. Doch die Aufhellung des Schriftbildes kam erst mit der weiteren
Entwicklung.
Seit der Mitte des 9. Jahrhunderts begegnen wir fast nur noch der hochentwickelten
Form der karolingischen Minuskel. Sie hat die alten Kursiv- und Halbunzialelemente
abgestreift, und diese überleben lediglich in den Minuskelschriften der in den Rand¬
gebieten des fränkischen Reiches gelegenen Schreibschulen. Wenngleich die karolin¬
gische Minuskel seit etwa dieser Zeit in ihrer Konstruktion stabilisiert ist, hat sie
trotzdem eine nicht immer stabile Schreibform. Nicht jede Handschrift ist graphisch
gleich vollendet, und begreiflicherweise konnte der Modellierung der karolingischen
Minuskel nicht immer eine genügende Sorgfalt und ausreichende Zeit gewidmet wer¬
den, um sie in ihrer ausgereiften Schönheit wirken zu lassen. Ihr Duktus ist im Inter¬
esse eines schnelleren Schreibvorgangs manchmal weiterhin schräg geneigt, und aus
demselben Grund pflegt das Schriftbild oft mehr oder minder flüchtig, kursiv skizziert
zu sein. In derartigen Fällen kann natürlich auch der charakteristische ausgewogene
Strichstärkewechsel nicht immer gelingen, meist vielleicht wegen der nicht richtig oder
315