KAROLINGISCHE MINUSKEL
Die Wahrscheinlichkeit der Theorie T. Sickels, die auch von dem tschechischen
Paläographen G. Friedrich akzeptiert wurde und auf der Vermutung fußte, daß eben
diese römische Minuskel jene Schrift sein könne, aus der sich die karolingische Minuskel
zu entwickeln begann, schien nicht nur im Vergleich der beiden Schriften, deren
Ähnlichkeit tatsächlich auffällt, Unterstützung zu finden, sondern auch im Hinweis
auf die Beziehungen zwischen dem fränkischen Reich und Italien, die schon seit Pippin
sehr lebhaft waren und durch wiederholte Schenkungen von Buchhandschriften seitens
der Päpste weiter gefestigt wurden, so daß man auch einen Einfluß der römischen
Schule auf das fränkische Schreibwesen in Betracht ziehen kann. Manche Autoren
gehen sogar so weit, dieser römischen Schreibschule das ausschließliche Verdienst
zuzuschreiben und den eigentlichen Initiator der Schriftreform nicht in Karl dem
Großen und seinem Kreis, sondern im Papst Hadrian I. zu erblicken. Das römische
Buchschaffen des frühen Mittelalters stand im Schatten des Glanzes und der Produkti¬
vität der süditalienischen Skriptorien und wird daher unverdienterweise von der For¬
schung übergangen. Es hatte zweifellos eine ältere Tradition, aber über seine Ent¬
wicklung wissen wir des Mangels an erhaltenem oder durchforschtem Material wegen
nur sehr wenig außer der Tatsache, daß diese Entwicklung gleichfalls zu einer eigenen
Schrift vom Typus der Buchminuskel gedieh. Doch es scheint nicht, daß diese römische
Minuskel im Umkreis des italienischen Schreibwesens einen stärkeren Widerhall ge¬
funden hätte, denn man hat sie bisher, soviel mir bekannt ist, nur in zwei Hand¬
schriften aus dem 8. Jahrhundert gefunden : im Psalter von Montpellier aus den Jahren
783—792, von dem jedoch nicht ganz feststeht, ob er wirklich in Rom geschrieben
wurde, und in dem bereits erwähnten vatikanischen Kodex Liber diurnus (Abb. 176),
der in den Jahren 780-795 bestimmt in Rom entstand und mit einer sehr gefälligen
und ausgezeichnet lesbaren Schrift - der Zeichnung nach einer fast vollendeten Mi¬
nuskel - geschrieben ist. Das Alphabet dieser bemerkenswerten Schrift (Abb. 175)
stellt eine außerordentlich geglückte Synthese der graphischen Elemente altrömischer
Schriften — Buch-Halbkursiv, Unziale und Halbunziale - dar. Von der Unziale ab¬
geleitet ist hier die Zeichnung des a fast schon in der Form der heutigen Buchminuskel
mit Bauch, von der es sich nur durch den immer noch geneigten Schaft der ursprüng¬
lichen Majuskel unterscheidet. Die gleichfalls heutige Form des e wurde wieder un¬
verändert aus der Halbunziale übernommen, ebenso wie das g. Von der Halbunziale
unterscheidet sich das Alphabet dieser römischen Minuskel sodann durch den Buch¬
staben n, der hier ausschließlich in seiner heutigen Minuskelform vertreten ist. Die
Bäuche des p und q sind hier bereits geschlossen. Die Buchstaben r und í werden
nunmehr besser unterschieden, weil der zweite Strich des r nicht die mittlere Minus¬
kelhöhe überragt, was hingegen beim zweiten dieser von der Kursive herkommenden
Buchstaben die Regel ist. Die übrigen stehen hier insgesamt in ihrer ausgereiften
Minuskelform. Unsere Aufmerksamkeit lenken auch die in der Zeichnung vollendeten
Ligaturen et, st und die Abkürzung per auf sich. Doch nicht allein dadurch ist diese
römische Minuskel ungewöhnlich interessant, sondern auch und vor allem durch die
schönen Proportionen des Schriftbildes im fast schon vollkommenen, von einem neuen
graphischen Geist durchdrungenen Aufbau, der die ausgerichteten Zeilen des für seine
Zeit ungewöhnlich gut lesbaren Textes kennzeichnet. All dieser Vorzüge wegen, die
die charakteristische Zusammensetzung ihres Alphabets ergänzen, ist diese römische
Minuskel ein schönes Beispiel für die weit fortgeschrittene Entwicklung, die auch
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i y4. Frühe karolingische Minuskel, 8. - Mitte des д. Jahrhunderts.
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