KAROLINGISCHE MINUSKEL
zusammen. Durch die Erfüllung dieser Forderungen kam schließlich eine einfache,
aber ausgesprochen formale Buchschrift zustande, deren schmucklose Zeichnung und
wahrhafter Schreibduktus zu einer bewundernswerten Ruhe und Eleganz der Text¬
seite führten, wie sie mit so einfachen Mitteln zuvor nur selten erzielt wurde. Dazu
trug zweifellos auch die absichtsvolle Tendenz zu quadratischen Proportionen der
eigentlichen Schriftzeichnung innerhalb der mittleren Linien des Minuskelsystems bei.
Dieses Quadratische erinnert an einige Analogien in den besten Schriften der monu¬
mentalen Schriftkunst im antiken Rom.
Doch zu diesem Ideal, der Verschmelzung graphischer Elemente von verschiedener
Herkunft zur neuen, harmonischen Ordnung einer einheitlichen Komposition des
gesamten Alphabets in einer Schrift von neuem graphischem Typus reifte die karolin¬
gische Minuskel nicht plötzlich, schon in ihren Anfängen heran, sondern sie näherte
sich ihm schrittweise in gewissen Handschriften vom Ausgang des 8. Jahrhunderts.
Formal kristallisierte sie erst später in verschiedenen Zentren des Buchschaffens auf
dem Gebiet des fränkischen Reiches, der Überlieferung zufolge vor allem in der
Schriftschule von Tours. Doch auch dort geschah dies wahrscheinlich nicht vor dem
Ende des 8. Jahrhunderts, noch zu Lebzeiten Alkuins. Denn aus jener Zeit hat sich
leider aus dem Skriptorium des Klosters zu St. Martin kein mit dieser Schrift ge¬
schriebenes Manuskript und auch kein anderer Beleg für die karolingische Minuskel
erhalten, der uns das bestätigen könnte. Ihren diesbezüglichen Ruf hat die Schule
von Tours wahrscheinlich erst aus der Zeit des Abtes Fridugis, der nach Alkuins Tod
im Jahre 804 sein Amt antrat. Übrigens war sie nicht das einzige Zentrum der karolin¬
gischen Kalligraphie. Neben ihr betätigte sich erfolgreich die Schreibschule des kaiser¬
lichen Hofes zu Aachen, wo die berühmten Schreiber Dagulf und Godescalc wirkten,
und die Klosterschulen in St. Denis, Cluny, Laôn, Noyon, Cambrai, Arras, Tournai,
Corbie, Metz, Flavigny, Reims, Fulda, Regensburg und an anderen Orten des frän¬
kischen Reiches. Sodann wurden neben der karolingischen Minuskel, mit der man
seit dem 9. Jahrhundert vor allem Bücher des geläufigeren Gebrauchs schrieb, für die
liturgischen Prachtkodizes die Unziale und für Titel und Überschriften beide Formen
der Kapitale verwendet.
Es dauerte vielleicht bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts, bevor die karolingische
Minuskel in der Zeichnung der einzelnen Buchstaben vereinheitlicht und stabilisiert
war, und darum wird ihre eigentliche Entwicklung in der Regel in drei Phasen ein¬
geteilt: die etwa bis zum Ende des 8. Jahrhunderts reichende Frühzeit, die Zeit der
höchsten Entfaltung etwa vom 9. bis zum Ausgang des 11. Jahrhunderts, und schlie߬
lich die romanisch-gotische Übergangszeit vom 12. bis zum 13. Jahrhundert. Die
verschiedenen Formen der karolingischen Minuskel dieser Zeitabschnitte werden so¬
dann mit Namen bezeichnet, die ihren Charakter in der entsprechenden Periode aus-
drücken. Zum Beispiel ist mit dem Terminus Praekarolina (Semkowicz) die Frühform
gemeint, d. h. die vorkarolingische Minuskel, aber mir scheint diese Bezeichnung zu
breit zu sein und zu viele verschiedene der bis zum Ende des 8. Jahrhundert auftre¬
tenden Minuskelschriften zu umfassen. Und ich glaube, daß mein Terminus frühkaro¬
lingische Minuskel immer noch besser die Beziehung zur hochentwickelten Minuskel
der karolingischen Epoche ausdrückt, umso mehr, als es sich hier eigentlich fast nur
um Schriften der Zeit Karls des Großen (771-814) handelt.
Die meisten Beispiele für den Weg, den die Entwicklung bis zur karolingischen
310
FRÜHKAROLINGISCHE MINUSKEL
Minuskel nahm, liefern uns jene Handschriften, die aus Schriftschulen auf dem Gebiet
des fränkischen Reiches stammen. Im Alphabet der Frühform der karolingischen Mi¬
nuskel, so wie sie in verschiedenen derartigen Minuskelhandschriften aus der Zeit
etwa von den siebziger Jahren des 8. bis zu den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts
enfttJcnott ^гчтіДлиГ
/&ІігдяпцГ viüi • тепГ- ti
Ллхсг by
173. Liber pontificalis aus dem Jahre удб. Detail.
in Erscheinung tritt (Abb. 174), können wir vor allem gewisse auch weiterhin in
mehreren Varianten vorkommende Buchstaben feststellen, die manchmal gleichzeitig
in derselben Handschrift Vorkommen, oder andere Buchstaben mit noch nicht voll
entwickelter Zeichnung. So pflegt der Buchstabe a zwar zum Großteil bereits in seiner
Minuskelform mit einem am geneigten Schaft angehängten Bauch vertreten zu sein,
aber neben dieser Form kommt — auch in derselben Zeile — oft die Halbunzial- oder
sogar die offene Kursivform in Gestalt des doppelten cc vor, wie sie uns aus den eben
behandelten ‘nationalen’ Schriften gut bekannt ist. Das g hat meist Halbunzialform.
Neben der Minuskel- bleibt die Majuskelform des n merkwürdigerweise auch mitten
im Wort stehen. Dafür hat sich - vielleicht von allem Anfang an - die Unterscheidung
der Buchstaben r und s gebessert. Das erstere überragt nicht mehr die mittlere Mi¬
nuskelhöhe, während das zweite nur noch selten oder ganz geringfügig unter die Fu߬
linie hinabgezogen wird. Sehr typisch für das gesamte Alphabet ist immer noch die
keulenförmige Verstärkung der Oberlängen des b, d, h, l und des bisher noch selten
zu Geltung kommenden k, ebenso wie der weiterhin überwiegende, wenn auch meist
nur mäßig geneigte Duktus. Doch schon im 8. Jahrhundert finden wir in besseren
Handschriften wie z. B. dem Wiener Psalter Karls des Großen, den im Jahre 795 in
Aachen der berühmte Dagulf selbst schrieb, einen senkrechten Duktus, obwohl im
übrigen auch hier von der Schrift all das gilt, was bereits über die typischen Merkmale
der Frühform der karolingischen Minuskel gesagt wurde. Die Abhängigkeit von älteren
Vorbildern ist augenfällig, ähnlich wie beider ebensowenig stabilisierten Minuskel der
Pariser Handschrift Liber pontificalis aus dem Jahre 796 (Abb. 173), deren Schrift
jener der römischen Handschrift Liber diurnus aus den Jahren 780-795 - man führte
sie früher manchmal als Beispiel des eigentlichen Prototyps der karolingischen Minus¬
kel an - sehr nahe steht.
ЭИ