KAROLINGISCHE MINUSKEL
teressiert. Es ist paradox, daß sie von einem Herrscher angeregt wurde, der selbst viel¬
leicht bis zu seinem Tod nicht richtig schreiben gelernt hatte, obwohl er sich seit
seinem vierzigsten Lebensjahr darum mit viel Geduld bemüht haben soll. Diesen
Mangel glichen jedoch andere persönliche Vorzüge Karls aus, u. a. auch der glück¬
liche Instinkt, mit dem er die bedeutendsten Persönlichkeiten aus ganz Europa aus¬
zuwählen verstand, um sie in einer gelehrten Akademie über der Aufgabe einer
Erneuerung der klassischen Zivilisation und Organisation der Erziehung zu versam¬
meln. An die Spitze der Bewegung stellte er eine hervorragende Gestalt der damaligen
Gelehrsamkeit: Alkuin, einen Benediktiner aus York. Dieser gebildete Angelsachse
spielte in der karolingischen Renaissance eine Rolle von historischer Bedeutung, die
man, was den didaktischen Aspekt seiner Tätigkeit betrifft, vielleicht nur mit jener
des Tschechen Comenius vergleichen kann, aber in den Handbüchern des Schrift¬
schaffens werden seine Verdienste oft nicht richtig gewertet, indem man ihm solche
zuschreibt, die wohl kaum den historischen Tatsachen entsprechen.
Mit Karl dem Großen traf Alkuin im Jahre 781 in Parma bei der Rückkehr aus
Rom zusammen. Und hier lud ihn Karl ein, an seinen Hof zu kommen, sobald er
in England seine Angelegenheiten geordnet haben würde. Alkuin nahm die Einladung
an, aber es sollte noch mehrere Jahre dauern, bevor er nach Frankreich kam, um hier
die Leitung der durch ein Dekret aus dem Jahre 789 angeordneten Revision der
lateinischen Bibelabschriften zu übernehmen. Diese und andere kirchliche Werke hat¬
ten sich nämlich in England in verhältnismäßig reiner Sprache erhalten. Eine weitere
seiner Aufgaben war die Vorbereitung eines neuen liturgischen Textes der Messe nach
römischem Vorbild, der in dieser Hinsicht im gesamten Frankenreich zur Einheit
führen sollte. Zum Zentrum dieser und der weiteren literarischen und pädagogischen
Tätigkeit Alkuins wurde die Stadt Tours, wo er zum Abt des St.-Martins-Klosters,
des Sitzes einer berühmten Kalligraphieschule, bestellt wurde. Mit der Frage einer
Revision der kirchlichen Texte und der Abschriften klassischer Literatur sowie mit
einer ungewöhnlichen Zunahme der Buchproduktion hing auch das Problem der Wahl
einer Schriftform zusammen, die den Forderungen der Renaissancebewegung am
besten entsprochen hätte. Zu dieser Schrift für die überwiegende Mehrzahl der Texte
der karolingischen Renaissance wurde die sogenannte KAROLINGISCHE MINUS¬
KEL. Dies ist wiederum — aus Gründen, die wir sogleich kennenlernen werden — keine
ganz präzise Bezeichnung, aber sie hat in der lateinischen Paläographie Allgemein¬
geltung, obwohl wir manchmal auch anderen Namen für diese Form der Lateinschrift
begegnen, z. B. fränkische Minuskel oder Rundminuskel (Friedrich!. Gänzlich veraltet
und unzutreffend ist die Bezeichnung Rotunda, die die moderne Paläographie schon
lange für eine bestimmte, fest umrissene Gruppe gotischer Schriften reserviert hat.
Diese neue Minuskelform erfunden zu haben wird in den Handbüchern des Schrift¬
schaffens — und nicht nur in den ganz populären — immer wieder Alkuin selbst und
der Schreibschule von Tours zugeschrieben, obwohl dies historisch keineswegs nach¬
gewiesen ist. Hingegen hat es den Anschein, daß Alkuin an der Einführung der neuen
Schrift keinen entscheidenden Anteil hatte, wenngleich er der graphischen Qualität
der neuen Handschriften zweifellos Interesse entgegenbrachte und die Bemühungen
Karls des Großen um eine Vereinheitlichung der Lateinschrift unterstützte.
Die Alkuinslegende kann inzwischen noch nicht durch eine ebenso einfache, aber
mit historischen Quellen zweifelsfrei dokumentierte Darlegung des formalen Ursprungs
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FRÜHKAROLINGISCHE MINUSKEL
der karolingischen Minuskel ersetzt werden. Nicht einmal über die Zeit und den Ort
ihrer Entstehung existiert bisher die wünschenswerte Einheit der Ansichten, ebenso¬
wenig wie über ihre Genealogie. Die älteren Theorien leiten sie direkt aus der rö¬
mischen Halbunziale ab, und obwohl diese Entwicklung vielleicht nicht so unmit¬
telbar war, wie man früher annahm, muß als sicher gelten, daß man gewisser gemeinsamer
Merkmale wegen eine solche Verwandtschaft der karolingischen Minuskel wenigstens
teilweise voraussetzen muß. Andere Theorien suchen die formale Herkunft dieser
Schrift in der merowingischen Minuskel, in der irisch-angelsächsischen Schrift oder
in den altitalienischen Buchschriften bzw. der Kuriale. Ein andermal wieder wird
angenommen, daß die karolingische Minuskel nicht an einem einzigen Ort und aus
einem einzigen Vorfahren entstanden sei, sondern daß sie eine Synthese der natürlichen
Entwicklung all dieser und vielleicht auch noch anderer vorkarolingischer Schriften
darstelle. Allgemein akzeptiert wurde nicht einmal Sickels Vermutung, daß der Pro¬
totyp der karolingischen Minuskel jene außerordentlich entwickelte Minuskel sein
könne, die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in den Buchhandschriften der
römischen Schriftschule verwendet wurde und der wir später noch gebührende Auf¬
merksamkeit widmen werden. Aber auch im fränkischen Reich war eine Minuskel
dieses Typus zu dieser Zeit keine völlige Neuheit, denn manche Buchschriften, die
wir hier bereits kennengelernt haben, und auch andere, die wir bei passender Gelegen¬
heit behandeln werden, entwickelten sich zu ihr hin. Sogar gewisse Urkunden dieses
Kulturbereichs, in denen die veralteten merowingischen Formen durch Buchstaben
der Halbunziale ersetzt wurden, lassen zu diesem Zeitpunkt Anzeichen einer Hin¬
wendung zur Minuskel erkennen. Darum begegnen wir so oft jener Kompromißtheorie,
die feststellt, daß man die Notwendigkeit einer neuen Universalform der Lateinschrift
damals gleichzeitig im ganzen Bereich des lateinischen Schrifttums empfand und daß
die Entwicklung in den verschiedenen Schreibschulen und aus verschiedenen Proto¬
typen somit in diese Richtung wies. Später werden wir mit der Analyse des Alphabets
der hochentwickelten karolingischen Minuskel auch unsere eigene Ansicht über diese
Frage äußern, und zwar vom rein graphischen Gesichtspunkt her.
Die eigentliche Ursache der Entstehung der karolingischen Minuskel ist weniger
strittig. Denn sie bestand zweifellos darin, daß man bestrebt war, eine möglichst gut
lesbare und dabei sparsame Schrift zu schaffen, die zugleich der wünschenswerten
Geschwindigkeit des Schreibvorgangs minimal hinderlich wäre. Dem Wunsch nach
optimaler Lesbarkeit konnte nur die konsequente Einhaltung einer grundsätzlich ge¬
trennten Schreibweise möglichst einfacher und genügend differenzierter Buchstaben
von senkrechtem Duktus gerecht werden, wobei die Buchstaben in ein fest umrissenes
Vierlinien-Minuskelsystem eingeordnet sein und eine konstante und proportionale
Länge der über die mittlere Minuskelhöhe oder unter die Fußlinie reichenden Schäfte
haben mußten. Auch der ausgeglichene Kontrast der dünnen und dicken Striche,
die sich am besten nach einer einheitlich schrägen Schattenachse verstärken ließen,
konnte einer guten Lesbarkeit förderlich sein. Die Sparsamkeit war sodann durch die
Verkleinerung des eigentlichen Schriftbildes infolge Verkürzung der mittleren Minus¬
kelhöhe erreichbar, und zu einer entsprechenden Erleichterung des Schreibens konnte
allein die einfache und einheitliche Konstruktion der Buchstaben nach dem Vorbild
kursiver Formen beitragen. Aus diesen setzte sich bereits die Mehrzahl der zeitge¬
nössischen, bis dahin aber in der Zeichnung noch nicht stabilen Minuskelalphabete
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