DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
wesentlichen in allen diesen Schriften vor, nicht aber in der jüngeren römischen Kur¬
siv. Eigentlich ist sie die kursive Abkürzung der formalen Halbunzialform dieses Buch¬
stabens, die auch in der insularen Halbunziale erhalten blieb. Die in der Halbunziale
wie in der jüngeren römischen Kursiv übereinstimmende Form des Buchstabens g ist
mit verschiedenen unwesentlichen Varianten des Duktus allen ‘nationalen’ Schriften
außer der westgotischen gemeinsam. In der letzteren, ähnlich wie manchmal auch
in der Kuriale, hat er eine Form mit geschlossenem Bauch. In allen kontinentalen
‘NationaP-Schriften gleicht sich das t mit Bauch, dessen Andeutung schon im runden
Schaft dieses Buchstabens in der römischen Halbunziale enthalten ist. Keiner der
erwähnten Buchstaben kann somit als besonders charakteristisch für irgendeine der
‘nationalen’ Schriften gelten, und so bleiben nur drei Fälle einer wirklich verschiede¬
nen Schriftzeichnung, die nicht in den übrigen dieser Schriften vorkommt. Der erste
ist die Form des Buchstabens a in der westgotischen Kursiv und manchmal auch in
der merowingischen Minuskel; sie ähnelt zwar dem doppelten cc der übrigen ‘na¬
tionalen’ Schriftten, zeigt jedoch ein verkleinertes und höher oben angebrachtes erstes
c. Der zweite Sonderfall ist das с in Gestalt einer spiegelverkehrten 3 in der mero¬
wingischen Schrift. Doch eine solche Form zeigt manchmal das e in der langobardi-
schen und westgotischen Schrift. Die dritte Ausnahme ist die Form des Buchstabens
q in der Kuriale und der römischen Notarkursiv, eine kursive Paraphrase der Majuskel
dieses Buchstabens, die tatsächlich in keiner anderen der ‘nationalen’ Schriften vor¬
kommt. Bis auf diese wenigen Ausnahmen in der Konstruktion einiger Buchstaben
stimmen demnach alle ‘nationalen’ Schriften in der Zusammensetzung ihrer Alpha¬
bete im wesentlichen überein und ihr ganzer ‘National’-Charakter besteht eigentlich
nur in der rein äußerlichen Schreibreproduktion : im formalen Duktus der irisch¬
angelsächsischen Schriften, im Eckigen der beneventanischen Schrift, im Zer¬
zausten der merowingischen Kursiv, in der Art, wie die Ober- und Unterlängen der
westgotischen Minuskel enden, und in den übertrieben verlängerten Schäften der
Kuriale.
Die Unterschiede des Schreibstils reichen allerdings völlig aus, um den Charakter
jeder einzelnen dieser ‘nationalen’ Schriften, deren Anzahl einschließlich ihrer wei¬
teren Schreibvarianten in der Tat beachtlich war, herausgreifen zu können. Wenn
wir die verschiedenen in diesem Kapitel zusammengefaßten Schriften zu den Modi¬
fikationen altrömischer Schriften hinzuzählen, die wir im vorhergehenden Kapitel als
Universalschriften des Frühmittelalters kennengelernt haben, scheint uns die Summe
der Typen der Lateinschrift dieser Zeit überraschend hoch. Es liegt auf der Hand,
daß die Lateinschrift nunmehr eine Krisis erlebte, in der sich ihre Entwicklung spalten
und verzweigen konnte, so daß die Ergebnisse einander kaum noch glichen. Der
drohenden Katastrophe gebot jedoch die Geburt und universale Verbreitung einer
anderen Schrift des Frühmittelalters Einhalt, deren Geschichte wir ihrer umwälzenden
Bedeutung wegen ein besonderes Kapitel reserviert haben, und dies auch um den
Preis, daß wir indessen noch hier und dort gegen die chronologische Abfolge der
Entwicklung der Lateinschrift in diesem Zeitabschnitt verstoßen.
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KAPITEL III. DIE KAROLINGISCHE MINUSKEL
ALS WIR am Ende des vorigen Kapitels den Stand der Entwicklung der Latein¬
schrift erneut zu einem Überblick zusammenfaßten, und zwar so, wie sie etwa in der
zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ausgesehen haben mochte, stellten wir fest, daß zu
diesem Zeitpunkt in verschiedenen politischen und Kulturzentren und in den Schreib¬
schulen Westeuropas gleichzeitig ein mannigfaltiges und überraschend zahlreiches
Gemisch verschiedener universaler und lokaler, in vielen Fällen voneinander stark
abweichender Formen lateinischer Buch- und Urkundenschriften in Erscheinung trat,
wobei unsere Übersicht noch nicht einmal alle jene Schriften umfaßte, die wir hier
bereits zugleich hätten einreihen können. Die Entwicklung der Lateinschrift war, wie
wir gesehen haben, nach dem Zerfall des römischen Reiches keineswegs einheitlich
gewesen, weder im Ganzen noch in den einzelnen Schriftkategorien, und man könnte
sie vielleicht zusammenfassend als eine Abwendung nicht nur von der Universalgel¬
tung, sondern oft auch von der primären Forderung nach Deutlichkeit charakterisieren,
einer Forderung, die entweder der dekorativen Gestaltung der Schriftzeichnung oder
der größeren Schreibgeschwindigkeit geopfert wurde. Wie wir wissen, litt darunter
gewöhnlich stark die Lesbarkeit, und darum konnte die nächste Phase der Entwicklung
der Lateinschrift nichts anderes bringen als die allgemeine Rückkehr zu einer klareren
und deutlicheren Schriftzeichnung von universaler Geltung, die die weitere Zersplit¬
terung der Lateinschrift in nationale Modifikationen verhindern würde, zumal deren
ungestörte selbständige Entfaltung unselige Folgen für die Einheit der Schrift des
westeuropäischen Kulturbereichs gezeitigt hätte. Eine Wendung zum Besseren konnte
vielleicht durch die natürliche Entwicklung herbeigeführt werden, worauf viele An¬
zeichen einer kommenden Neuorientierung hinwiesen, aber größtenteils nimmt man
an, daß ein entscheidender und zeitlich so begrenzter Umschwung der Entwicklung
der Lateinschrift in dieser Richtung nicht ohne einen organisierten Impuls erfolgen
konnte, der seit J. Mabillon (1632-1707) Karl dem Großen und der von ihm inspi¬
rierten kulturellen Erneuerungsbewegung, der sogenannten karolingischen Renais¬
sance, zugeschrieben wird.
Die so bezeichnete Bewegung entstand im politisch konsolidierten Frankenreich
unter der Regierung Karls des Großen und setzte es sich insbesondere zum Ziel, den
breiten Bevölkerungsschichten durch eine Gesamterhöhung des Bildungsniveaus und
eine allgemeine Verbreitung der Schulen den christlichen Gedanken näherzubringen.
Auf der anderen Seite wandte sich diese Bewegung, die hierin die Bezeichnung Re¬
naissance weit mehr verdiente, dem Studium und der Erneuerung der klassischen
Zivilisation zu. Damit blieb sie jedoch auf einen ganz engen Kreis hochgebildeter
Persönlichkeiten am Hofe Karls beschränkt und fand in der barbarisierten Gesell¬
schaft keinen größeren Widerhall. Sie konnte ihn begreiflicherweise nicht finden, aber
auch so hatte sie für die Erhaltung der lateinischen Schriftsprache und der klassischen
Literatur eine außerordentliche Bedeutung, und zwar sowohl an sich, als auch darin,
daß sie, wie jede Renaissance, im Bemühen um eine Erneuerung verlorener alter
Werte unwissentlich neue hervorbrachte. Die zentrale Persönlichkeit in diesem Ge¬
schehen war Karl der Große selbst, auf dessen direkte Anregung eine ganze Reihe
Reformen zustandekam, von denen uns hier natürlich vor allem die Schriftreform in-
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