IJ2. Urkunden-Gitterschrift, д-12. Jahrhundert.
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URKUNDENMAJUSKEL
gänger, und wir werden auch später noch in verschiedenen höfischen und kirchlichen
Urkunden sogar des Hochmittelalters erneut ihren mannigfachen Varianten begegnen.
Es ist vielleicht nicht motwendig, hier einer ausführlichen Formanalyse der einzelnen
Buchstaben dieses Alphabets mehr Platz einzuräumen, aber interessant zu beobachten,
wie die Schreiber bei diesem konsequenten Verengen oder vielmehr Zusammenpressen
des Schriftbildes zuwegegingen, wo sie beispielsweise die Bäuche der Buchstaben b, g,
0 anbrachten und was sie daraus machten, wie sie die ¿-Schlinge behandelten usw.
Und all das, um dem Ganzen der urkundlichen Textseite eine dekorative Dominante
zu verleihen, der unten eine ähnlich traktierte kleinere Zeile mit den dekorativen Mono¬
grammen der Unterschriften entspräche. Dessenungeachtet kann man die interessante
Tatsache nicht übersehen, daß die Konstruktion gewisser Buchstaben trotz dieser bei¬
spiellosen Deformation der Schriftzeichnung weiterhin die alten merowingischen Kur¬
sivformen wenigstens ahnen läßt, und das auch bei Urkunden aus so später Zeit, wie
sie das 12. Jahrhundert in diesem Fall bedeutet.
Mit diesem ganz und gar absonderlichen, aber in graphischer Hinsicht sicher nicht
minder bemerkenswerten Derivat der merowingischen Kursiv schließen wir unsere
kurzgefaßte Übersicht der lateinischen Schriftformen aus der Gruppe der ‘nationalen’
Schriften, dieser heute so umstrittenen Kategorie der traditionellen paläographischen
Klassifizierung der frühmittelalterlichen Lateinschriften, ab. Graphisch sind diese
Schriften zweifellos sehr interessant, wenn auch nicht immer schön, und es war daher
notwendig, sich mit ihnen etwas ausführlicher zu befassen. Ihre entwicklungsmäßige
Bedeutung in der von uns verfolgten Richtung ist allerdings, wie wir sehen werden,
nicht besonders groß. Wir haben hier bei der traditionellen Aufzählung der charakte¬
ristischen Merkmale ihre gegenseitigen Unterschiede und ihre Unterschiedlichkeit von
den übrigen, universalen Lateinschriften dieser Epoche festgestellt. Überzeugen wir
uns jedoch in diesen Schlußworten selbst, ob all diese so allgemein hervorgehobenen
Kennzeichen für die einzelnen Schriften tatsächlich typisch sind, und wenn das nicht
der Fall sein sollte, was eigentlich sie so treffend charakterisiert. Rekapitulieren wir
daher die Zusammensetzung ihrer Alphabete, die wir bisher jedes für sich untersucht
haben. Wenn wir sie miteinander vergleichen, können wir auf den ersten Blick fest¬
stellen, daß die Mehrzahl der Buchstaben oder wenigstens deren Grundkonstruktion
bei allen diesen Alphabeten übereinstimmt und daß sie zugleich gewissen älteren La¬
teinschriften entspricht. Mehr oder minder ausgeprägte Unterschiede zeigt nur die
Zeichnung der Buchstaben a, c, e, q und t. Wir können jedoch konstatieren, daß z.B.
das a in Gestalt des doppelten cc für keine einzelne dieser ‘nationalen’ Schriften typisch
ist und sowohl in der irisch-angelsächsischen Halbunziale als auch in der langobar-
dischen Kursiv und Minuskel, in der westgotischen Minuskel und in der merowin¬
gischen Kursiv und Minuskel vorkommt. Von Bedeutung ist hier, daß es gerade in der
irisch-angelsächsischen Halbunziale enthalten ist und daß wir den Ursprung seiner
charakteristischen Form sehr leicht vom offenen a der römischen Halbunziale ableiten
können. Schwerer, wenn überhaupt, ließe sich das doppelte cc von der Form des Buch¬
stabens a in der jüngeren römischen Kursiv ableiten, womit gleich am Anfang des
Alphabets die Theorie von der direkten und ausschließlichen Entwicklung der konti¬
nentalen ‘National’-Schriften aus der jüngeren römischen Kursiv ins Wanken gerät.
Für keine dieser kontinentalen Schriften besonders typisch ist auch die Form des Buch¬
stabens e, die ungefähr an unsere heutige Abkürzung & erinnert. Sie kommt im
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