DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
wickelte sich eine besondere, für diese Urkunden außerordentlich charakteristische
Gattung einer Majuskelschrift, die wir deshalb als diplomatische oder Urkundenmajuskel
bezeichnen wollen. Ihr Alphabet (Abb. 171) setzte sich aus verschiedenen älteren
Majuskel- und vergrößerten Minuskelformen zusammen, die von verschiedenen Schrei¬
bern graphisch verschieden behandelt, aber grundsätzlich ungefähr gleich konzipiert
wurden. Trotz des heterogenen Ursprungs der einzelnen Buchstaben gelang es, vor
allem durch die überall gleich schmalen Proportionen des Schriftbildes, dem ganzen
Alphabet einen einheitlichen zeichnerischen Charakter zu verleihen. Die schmale und
hohe Zeichnung dieser Majuskel, die meist die gesamte Höhe der verlängerten Schäfte
der diplomatischen Minuskel einnimmt, ist sicher von stark dekorativer Wirkung, und
das war auch zweifellos der eigentliche Zweck dieser graphisch interessanten Schrift.
Dekorativ ist auch die kalligraphische Behandlung der Zeichnung einzelner Buch¬
staben, und nur das unterscheidet die Urkundenmajuskel verschiedener Kanzleien,
denn im wesentlichen ist sie in den Urkunden der kaiserlichen Kanzlei wie in den
königlichen Urkunden auch voneinander so weit entfernter Länder wie etwa Böhmens
und Englands die gleiche. Im Gesamtalphabet haben die Buchstaben C, D, G, L,
О, P, R, T, V, X und Z grundsätzlich Majuskelkonstruktion. Das H ist gewöhnlich
in Majuskel- oder Unzialform vertreten. Unziale Herkunft verrät das A, das allerdings
oft von der Kursiv beeinflußt ist. Aus der Minuskel wurde das E übernommen, ebenso
wie die Buchstaben F, I, K, Q_und S. Eine besondere Zeichnung hat das oft nur in die
Grenzlinien der mittleren Minuskelhöhe gezwängte M, das in der ursprünglichen
Unzialform mit dem zum Oval verbundenen ersten und zweiten Strich vertreten ist,
also mit einer Zeichnung, der wir viel später in den Schriften des gotischen Typus von
neuem begegnen werden. Dieselben kleinen Proportionen zeigt manchmal auch das
N in einer Majuskelzeichnung, deren Diagonale sich zu einem Querstrich in der Mitte
der Schäfte verwandelt hat. Die Neigung dieses Querstrichs zur Horizontale ist so
gering, daß eine Verwechslung des Buchstabens mit dem H möglich ist. Im übrigen
können wir zum Ganzen dieses Alphabets vielleicht noch bemerken, daß es vor allem
durch eine Vertikalisierung des Duktus gekennzeichnet ist, die insbesondere bei den
begradigten Rundungen der Buchstaben C, E, G und О sichtbar wird.
Die Tendenz, die Schriftzeichnung zu vertikalisieren, war übrigens Hauptmerkmal
der Kalligraphie der fränkischen Reichskanzlei, was wir bereits bei den hier ange¬
führten Beispielen aus karolingischer Zeit festgestellt haben. Eine Kalligraphie dieses
Typus wurde, wie man sieht, auch in den Urkunden der Nachfolger Karls des Großen
zur Geltung gebracht. Doch schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erreichte
die übertriebene Künstlichkeit ihrer schmalen Schriftzeichnung und der flach gebo¬
genen, stark gedehnten Oberlängen der Buchstaben b, d, h, l den Gipfel des Mögli¬
chen; so z. B. bei der Schrift des ganzen Textes eines Diploms Ludwigs des Frommen
aus dem Jahre 822 (Abb. 167). Doch das Prinzip des möglichst schmalen Schriftbildes
ist in der ersten Titelzeile dieser Urkunde bis in die letzten Konsequenzen getrieben.
Das dichte Gitterwerk der Vertikalen hat hier nur noch eine ausschließlich dekorative
Funktion, denn von Lesbarkeit kann sicher kaum noch die Rede sein. Diese litter а
oblongata der lateinischen Paläographie oder Gitterschrift der Urkunden, wie wir diese
nichtkursive Kursiv, deren Alphabet (Abb. 172) wir hier ihres interessanten graphi¬
schen Aspekts wegen gleichfalls reproduzieren, nach Delitsch vielleicht noch besser
definieren können, hatte auch vor der eigentlichen karolingischen Epoche ihre Vor-
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:yi. Urkundenmajuskel, 11.-12. Jahrhundert.
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