DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
9. Jahrhunderts nicht sehr ausgeprägt zum Ausdruck kommt. Sämtliche Versuche,
auch nur manche veraltete Formen einzelner Buchstaben zu ersetzen, blieben lange
vergeblich, weil die Schreibtradition ihnen hartnäckig Widerstand leistete. Sie war zu
168. Urkunde Rudolfs, Herzogs von Burgund, aus dem Jahre gji.
jener bezeichnenden kalligraphischen Tendenz erstarrt, die die Buchstaben so eng
wie nur möglich aneinanderreihte und so schmal wie möglich gestaltete, um sie in
sehr weit voneinander entfernten Zeilen durch den eleganten Schwung der in die
breiten Zeilenabstände hineinragenden überlangen Schäfte des b, d, h, i, l, der Schlei¬
fen des s und der Ligatur st entsprechend zur Geltung zu bringen. Die auf diese Weise
geschriebene Urkunde, beispielsweise noch das Diplom Ludwigs des Frommen aus
dem Jahre 822 (Abb. 167), stellte mehr eine ornamental gestaltete Fläche als eine
schriftliche Mitteilung dar. Obwohl wir der so orientierten Kalligraphie beachtliche
ästhetische Qualitäten nicht absprechen können, waren seine praktischen Mängel
anderseits um nichts geringer. Doch diese Tradition legte eine bewundernswerte Hart¬
näckigkeit an den Tag, weshalb es erst in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts
in der Kanzlei Ludwigs des Deutschen (843-876) zu einer wirklichen Reform kommen
konnte, die in der Urkundenschreibpraxis die sogenannte DIPLOMATISCHE MI¬
NUSKEL einführte. Obwohl die Konstruktion einer ganzen Reihe von Buchstaben
von der zeitgenössischen Buchminuskel abgeleitet war, behielt diese neue Kanzlei-
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ібд. Diplomatische Minuskel, 10.-11. Jahrhundert.
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