EINFÜHRUNG
ein besonderes Zeichen für jedes Wort. Zu den alten Piktogrammen mußten durch
deren Kombination und zeichnerische Variierung ständig neue Zeichen hinzugefügt
werden, parallel mit dem steigenden Kulturniveau, das jedoch nicht nur eine Zu¬
nahme des notwendigen Wortzeichenvorrats, sondern oft auch eine solche ihrer zeich¬
nerischen Qualität mit sich brachte. Die Zeichen büßten allmählich ihre darstellende
Wesensgrundlage ein, sie wurden zu mehr oder weniger komplizierten abstrakten
Schemata von ausgesprochen kalligraphischem Charakter. Eine solche, wenn auch
schöne Schrift schreiben zu lernen ist keine Kleinigkeit. Obwohl von den über 44 000
chinesischen Zeichen, die Kang Ssi um 1700 in seinem noch heute gültigen Wörter¬
buch anführt, die Mehrzahl veraltet ist und nicht mehr verwendet wird, muß der
gebildete Chinese doch zumindest 9000 Ideogramme kennen, und auch dem Leser
der üblichen Literatur müssen durchschnittlich 500 bis 2000 Zeichen geläufig sein.
Wieviele wertvolle Jahre kostet die chinesische Jugend, was unser sechsjähriger Schul¬
bub in einigen wenigen Wochen lernt, um sich die ersten Anfänge der Bildung an¬
zueignen ! Die ungeheure Kompliziertheit der ideographischen und logographischen
Systeme behinderte zwar beträchtlich die Erlangung der Schriftkenntnis, aber den¬
noch entstand schon auf dieser Entwicklungsstufe der Schriftsysteme in der Frühzeit
der Geschichte eine Schöne Literatur, entstanden schriftliche Aufzeichnungen aller
Art. Andererseits war diese Kompliziertheit zugleich ein Ansporn, einfachere Formen
des schriftlichen Ausdrucks zu suchen, die in den verschiedenen Kulturbereichen
früher oder später auch gefunden wurden.
Den zu dieser Vereinfachung führenden Weg wies wiederum die Sprachanalyse,
diesmal jedoch eine viel folgerichtigere. Man fand, daß durch die Bildzeichen mit
Hilfe von Symbolen und der Identifizierung eines konkreten Zeichens mit einem ab¬
strakten Inhalt nicht nur konkrete, sondern auch abstrakte Begriffe ausgedrückt wer¬
den konnten, Begriffe, die bestimmten Lautverbindungen entsprachen. Mit anderen
Worten, man entdeckte, daß irgendein schwer darzustellender Begriff durch das Zei¬
chen eines Homonyms deutlich gemacht werden konnte. Im Augenblick, da das
Zeichen aufhörte, für einen Begriff oder für ein Wort zu stehen, und zu einem Laut¬
zeichen wurde, begann die vierte und letzte Entwicklungsstufe der Schriftsysteme : die
der phonetischen Schriften. Aus den Pikto-, Ideo- und Logogrammen werden Phono-
gramme, graphische Aufzeichnungen der Sprachlaute. Das Prinzip der phonetischen
Schriften ist also die Aufgliederung der Sprache in Lauteinheiten und der graphische
Ausdruck einer jeden von ihnen durch ein selbständiges Zeichen. Die Aneinander¬
reihung solcher Zeichen gestattet es, eine beliebige Lautfolge bzw. Worte und ganze
Sätze niederzuschreiben. Die Analyse des Lautaspekts der Sprache ging jedoch nicht
sofort in die letzten Konsequenzen. Wo die phonetische Bedeutung anfangs nur einige
bis dahin bildhafte Zeichen betraf, handelte es sich vorläufig nur um eine phonetisierte
Bilderschrift (Wort-Bildschrift II, Jensen). Also noch um keine rein phonetische Schrift,
aber bestimmt um die letzte Stufe, die Übergangsstufe zu einer solchen, vor allem weil
mit der Aufgabe des Bilderschriftprinzips allmählich auch dessen Bildzeichen aufge¬
geben wurden, und zwar zugunsten einfacher Zeichen von abstrakter Art. Ist die
Sprachanalyse noch weiter fortgeschritten, zur Zergliederung der Worte in Silben,
dann handelt es sich bereits um eine wirkliche phonetische Schrift, die phonetische Sil¬
benschrift. Die Weiterentfaltung dieses analytischen Prozesses hatte aus mehreren Grün¬
den, die hier noch zu nennen sein werden, einen besonderen Verlauf. Aus den ein¬
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EINFÜHRUNG
zelnen Silben wurden merkwürdigerweise nur die Konsonanten herausgegriffen, deren
graphische Zeichen zur Basis sehr einfacher, aber immer noch nicht ganz zufrieden¬
stellender Schriften wurden, die man als phonetische Konsonantenschriften bezeichnet. Erst
durch die folgerichtige Zergliederung der Sprache in Konsonanten und Vokale kam
die höchstentwickelte alphabetisch-phonetische Schrift zustande, das eigentliche Alphabet
als Summe der phonetischen Zeichen aller Sprachlaute. Damit hat die Schriftent¬
wicklung, was ihr inneres Prinzip betrifft, ihren Gipfel erreicht.
Gegenüber allen früheren wie auch immer definierten und benannten Entwicklungs¬
stadien zeichnen sich die phonetischen Schriften vor allem durch einen außerordent¬
lichen Vorteil aus: ihre Einfachheit. Um lesen und schreiben zu können, genügt es,
sich im Durchschnitt nicht ganz dreißig Zeichen einzuprägen, die im Vergleich zu
den früheren Schriften unverhältnismäßig einfacher und leichter festzuhalten sind.
Das phonetische Schriftprinzip leidet jedoch gegenüber den piktographischen Schriften
an einem fühlbaren Mangel : Als Aufzeichnung einer ganz bestimmten Sprache wird
das Geschriebene für alle unverständlich, die diese Sprache nicht beherrschen. Doch
der Mangel - umso mehr als er meist nur theoretisch ist - wird mehr als ausgewogen
durch den Gewinn, den die Entstehung nationaler Literaturen bedeutet. War die
Schrift schon zuvor einer der wichtigsten Faktoren im Verschmelzungsprozeß zersplit¬
terter Stämme zu einem einheitlichen Volksganzen, so hat die phonetische Schrift
darüber hinaus jeder neuen nationalen Einheit eine leicht zu nutzende, aber oft lange
ungenutzte Gelegenheit geboten, eine eigene Nationalkultur höheren Rangs zu ent¬
falten. Sie hat die Volkssprache auf der höheren Stufe einer Schriftsprache stabilisiert
und parallel mit dem kulturellen Wachstum des Volkes auch den Ausdrucksreichtum
seiner Sprache gesteigert. So wurde die Schrift oft nicht nur zur einzigen Bewahrerin
toter Sprachen, sondern neben den Kunstdenkmälern auch zum einzigen Zeugnis des
Nationalcharakters toter Völker. Indem sie die Aneignung einer Bildung, den schnellen
Austausch und das Sammeln von Erfahrungen erleichterte, trug die phonetische Schrift
unter günstigen Bedingungen zum steilen Anstieg der allgemeinen Bildung bei und
wurde schließlich zu einem Hauptfaktor des gewaltigen Aufschwungs der modernen
Wissenschaft und Zivilisation. Das ist zweifellos auch der Grund, warum die Chinesen
im Jahre 1958 trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten beschlossen, ihre schöne
altertümliche, aber zu komplizierte ideographische Nationalschrift aufzugeben und
sie so bald wie möglich durch ein phonetisches Alphabet zu ersetzen, das eine Ver¬
sion der Lateinschrift mit 26 Buchstaben ist. Das phonetische Alphabet ist die un¬
zweifelhaft größte Entdeckung der Menschheit, obwohl es heute als etwas ganz Ein¬
faches und Selbstverständliches erscheint. Und doch war es - wenngleich die Alpha¬
betschrift das Lesen- und Schreibenlernen außerordentlich erleichtert - zweifellos sehr
schwierig, sie zu entdecken, und dies geschah wahrscheinlich nur schrittweise. Mit
nicht geringeren Schwierigkeiten müssen sich jene Forscher auseinandersetzen, die die
Anfänge und den Entwicklungsweg, der zu dieser Entdeckung führte, beleuchten
wollen.
Die erwähnten Versuche der heutigen Forschung, die Anfänge und ersten Stadien
der Schriftentwicklung zu rekonstruieren, haben sich nur das Ziel gesteckt, die Haupt¬
gruppen einer grundlegenden Klassifizierung festzusetzen, nach der man die verschie¬
denen Schriften mit Rücksicht auf das innere Prinzip der Schriftsysteme ordnen
könnte. Doch in jeder dieser Hauptgruppen gab es - mit den Piktogrammen begin-
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