DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
der römischen Kurie, päpstliche oder kuriale Minuskel genannt, ihren Charakter einer
Urkundenschrift von ausgeprägter Eigenart, den ihr die Schreiber der päpstlichen
Kanzlei seit der Mitte des 12. Jahrhundert in überraschender Uniformität des Duktus
verliehen hatten. Sie ist eine außerordentlich dekorative Schrift von kalligraphischem
Typus und wird in ausgeglichenen Zeilen mit sehr breiten Zeilenabständen geschrie¬
ben, wie es auch unser Beispiel aus einer Urkunde Paschalis II. aus dem Jahre и 17
erkennen läßt (Abb. 164), das uns diese Form aus der Zeit des Übergangs von der
Kuriale anschaulich vor Augen führt. In der Zusammensetzung des Alphabets der
Kurialminuskel des 12. Jahrhunderts (Abb. 165) traten jedoch bedeutsame Verände¬
rungen auf, insbesondere in der Zeichnung der Buchstaben a, e, q, t, die hier bereits
in reiner Minuskelkonstruktion vertreten sind. Das d hat neben seiner Minuskel auch
T Tn zi al form, die später in der Kurialminuskel überwiegt. Im übrigen haben alle
Buchstaben ein sehr kleines Bild im Verhältnis zu den hoch darüber hinausragenden
Oberlängen, mit deren kalligraphischer Ausführung die päpstlichen Schreiber ihre
Kunstfertigkeit bewiesen. Interessant ist, daß dabei die Ober- und Unterlängen der
Buchstaben b, d, l, p, q übergangen wurden und der gesamte Eifer des Schreibers sich
in den Schleifen des f, g und s entlud. Doch das reichte völlig aus, um eine stark deko¬
rative Wirkung der Textseite zu gewährleisten. Überdies wurden die Buchstabenver¬
bindungen ct und st auf ähnliche Weise graphisch behandelt, indem man die beiden
Buchstaben in einigen päpstlichen Urkunden merkwürdigerweise über einen breiten
Zwischenraum hinweg durch eine lange horizontale Verbindungslinie verknüpfte. Der
gerundete Duktus der Kurialminuskel dieses Typus machte jedoch um die Wende des
13. Jahrhunderts eine Wandlung durch und unterlag immer offenkundiger der zeit¬
gemäßen Tendenz, die runden Züge zu knicken. Die solchermaßen gotisierte, wenn
auch in ihrer kalligraphisch dekorativen Wirkung viel gemäßigtere Kurialminuskel
machte sich mit bewundernswertem Beharrungsvermögen ganze Jahrhunderte lang
in den Urkunden der päpstlichen Kanzlei geltend. Im Hochmittelalter wurde ihr
Schriftbild jedoch begreiflicherweise noch viel schmäler und infolge der geknickten
Züge der sehr breiten Feder noch eckiger, was auch einen entsprechend kontrastrei¬
cheren Strichstärkewechsel nach sich zog. Dies war die letzte Entwicklungsphase
der Kurialminuskel, die erst im 15. Jahrhundert in der Päpstlichen Kanzlei durch
Schriften von anderem Typus ersetzt wurde.
Die fränkische Reichskanzlei bediente sich anfangs der uns bereits bekannten zer¬
zausten merowingischen Kursiv. Diese graphisch so kuriose Form blieb dann bis in
die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts als offizielle Schrift der königlichen Kanzlei
auch der zweiten fränkischen, karolingischen Dynastie in Gebrauch. Doch schon in
gewissen Urkunden aus der Regierungszeit der unmittelbaren Vorgänger Karls des
Großen kann man leicht ein sehr erfolgreiches Streben nach einem höheren graphi¬
schen Niveau erkennen. Zugleich wird der Forderung, daß der Text besser lesbar
sein sollte, durch die Einführung von Wortabständen und die Verminderung der
Ligaturen mehr Nachdruck verliehen. Das beeinflußte wiederum die fortschreitende
Vereinheitlichung der Zeichnung der einzelnen Buchstaben, die nunmehr meist ein¬
heitlichen und sorgfältiger beobachteten Grenzlinien des Minuskelsystems eingefügt
werden. Unter Karl dem Großen gedieh die ursprünglich unschöne merowingische
Kursiv sogar zu einer Schrift von unzweifelhaft kalligraphischem Typus, die z. B. in
einer im Stiftsarchiv von St. Gallen verwahrten Urkunde aus dem Jahre 772 (Tafel
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165. Kurialminuskel, 12. Jahrhundert.
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