DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
die Forscher bei der Untersuchung ihrer Genealogie in starke Verlegenheit. Ihre
Herkunft und ihr graphischer Stil werden mit verschiedenen äußeren Einflüssen er¬
klärt, z. B. dem der Schrift der ravennatischen Papyri und der byzantinischen kaiser¬
lichen Urkunden. Daß die Kuriale jedoch im Wesentlichen ein weiterer Ableger - von
wo auch immer er beeinflußt sei - der jüngeren römischen Kursiv ist, ebenso wie ihre
nahe Verwandtschaft mit der sog. langobardischen Kursiv, schließt jeden Zweifel aus.
Die eigentliche Entwicklung der Kuriale wird in zwei Zeitabschnitte eingeteilt, einen
älteren vom 7. zum 10. und einen jüngeren vom 11. bis zum ersten Viertel des 12.
Jahrhunderts. Die ältere Kuriale, wie wir sie z. B. in einer Urkunde Leos IV. aus dem
Jahre 850 sehen (Tafel LIX), ist eine vertikale Schrift ohne kursive Neigung mit iso¬
liert geschriebenen Einzelbuchstaben nach der Art einer formalen Schrift. Ihr Schrift¬
bild wirkt ziemlich klein im Verhältnis zu manchen übertrieben hohen Oberlängen,
die begreiflicherweise außerordentlich weite Zeilenabstände erforderlich machen. Doch
auch im Alphabet dieser Kursiv (Abb. 162) fallen manche Buchstaben durch ihre
charakteristische Form auf. Typisch ist schon das a, denn es ähnelt zwar dem doppelten
cc anderer ‘nationaler’ Schriften, unterscheidet sich aber von diesem beträchtlich durch
die Rückwärtsbiegung des zweiten Bogens, so daß es einem griechischen omega nahe¬
kommt. Der typischen Form des e in der Art der Zeichnung einer arabischen 8 sind
wir hier gleichfalls schon begegnet, aber nicht in einer so kuriosen Form, wie sie diesen
Buchstaben manchmal in der Kuriale kennzeichnet — mit miniaturhaftem oberem
und großem unterem Bauch. Damit wird es dem 0 sehr ähnlich, ebenso wie das kreis¬
förmige t, von dem sich das 0 nur dadurch unterscheidet, daß sein Kreis nicht durch
eine Ligatur mit dem folgenden Buchstaben verbunden wird. Sehr schwer vonein¬
ander zu unterscheiden sind manchmal die Buchstaben r und j, die beide entweder
unter die Fußlinie verlängert oder nicht verlängert werden. Besonders charakteristisch
ist die in keiner anderen Schrift dieser Zeit vorkommende Form des Buchstabens q,
die mit ihrer ein wenig an die ursprüngliche Majuskel erinnernden Zeichnung oft
hoch über der mittleren Minuskelhöhe in Form eines offenen Kreises angebracht wird.
Am Ausgang des 10. Jahrhunderts büßte die Kuriale unter dem Einfluß der zeit¬
genössischen Buchschrift gewisse Begleitmerkmale des Kursivcharakters ein. Die Zahl
der Ligaturen nimmt ab, die einzelnen Buchstaben werden konsequent getrennt ge¬
schrieben, aber die Lesbarkeit hat sich trotzdem kaum verbessert. Einer Art Derivat
der Kuriale dieses Typus - einer littera Romana genannten Variante - begegnen wir
auch in den Schriftstücken der römischen Notarkanzleien. Dort hatte diese Schrift,
ähnlich wie in den päpstlichen Urkunden, ihren traditionellen Duktus beibehalten
und sich das ganze 9. und 10. Jahrhundert nicht wesentlich verändert. Soweit die
wenigen erhaltenen Denkmäler, z. B. eine Urkunde aus dem Jahre 980 (Abb. 163),
schließen lassen, unterscheidet sich diese römische Notarkursiv grundsätzlich nicht von
der Kuriale, es sei denn durch die geringere Sorgfalt des Schreibers und die minder
vollendete Ausführung. Vor allem ist die Zusammensetzung des Alphabets beider
Schriften im wesentlichen dieselbe, ebenso wie die charakteristische Zeichnung der
Buchstaben a, e, q, t. Nur wird in den römischen Notarurkunden die Drehung der
Oberlängen weniger übertrieben und Ligaturen kommen öfter vor; die Lesbarkeit
des noch flüchtigeren Duktus ist noch geringer. Vom Pergament, dem auch für Ur¬
kunden immer öfter verwendeten Schreibmaterial, und von der Schreibart der kaiser¬
lichen Kanzlei beeinflußt, nahm die Kuriale inzwischen seit dem 11. Jahrhundert
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KURIALE
einen anderen graphischen Charakter an, wenngleich sie an der Zeichnung einiger
für sie typischer Buchstaben wie z. B. des a bis ins 12. Jahrhundert festhielt. Die jüngere
Kuriale unterscheidet sich somit von der älteren vor allem durch ihre zunehmende
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163. Römische Notarurkunde aus dem Jahre g8o. Detail.
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C стг-jTC 164. Urkunde Paschals II. aus dem Jahre ту. Detail Aw Verwandtschaft mit der gleichzeitigen Buchminuskel und das allmähliche Schwinden Trotz dieser Vorherrschaft der Buchformen behielt auch diese neue Schriftvariante 29З
ihres ursprünglichen Kursivcharakters, wenn wir von dem noch kleineren und schmä¬
leren Schriftbild absehen. Auch mehrere Versuche, zur ursprünglichen Form der Ku¬
riale zurückzukehren, konnten ihrem fortschreitenden Verfall während des 11. Jahr¬
hunderts nicht Einhalt gebieten. Zu dieser Zeit verschlechterte sich infolge einer ge¬
wissen Eckigkeit des Duktus noch ihre Lesbarkeit, was wiederum das Bedürfnis einer
Reform wachrief, die nach einigen älteren Versuchen, die zeitgenössische Buchmi¬
nuskel einzuführen, erst am Anfang des 12. Jahrhunderts verwirklicht wurde, als in der
päpstlichen Kanzlei die Formen der formalen Buchschrift überwogen.