DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
7. Jahrhunderts zugleich zum Schreiben von Buchkodizes. Der charakteristische Duk¬
tus dieser Urkundenschrift wurde anfänglich in die Buchhandschriften übertragen,
obwohl die Undiszipliniertheit hier durch die größere Sorgfalt des Schreibers etwas
gemildert ist. Auch so hatte die merowingische Minuskel jedoch lange einen uneinheit-
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160. Chronik des Gregorius von Tours. Corbie, um das Ende des 7. Jahrhunderts. Detail.
liehen Kursivcharakter, den sie erst unmittelbar vor dem Zeitpunkt ihres jähen Endes
abzustreifen begann. Als Beispiel der ersten, noch völlig kursiven Form dieser fränki¬
schen Buchschrift sei die Legenda in natale episcoporum genannt, das sog. Lektiona-
rium von Luxeuil aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts (Tafel LVII). Es ent¬
stand in dem berühmten altfranzösischen Skriptorium von Luxeuil und ist mit einer
Schrift geschrieben, die vielleicht nur mit Rücksicht auf den teilweise isolierten Duktus
einzelner Buchstaben als Buchschrift qualifiziert werden kann. Einen zwar bereits
weniger merowingischen, aber immer noch viel zu kursiven Charakter hat eine andere
Handschrift des 7. Jahrhunderts, die Chronik des Gregorius von Tours (Abb. 160), die
ungefähr am Ausgang des Jahrhunderts im Kloster Corbie, einem weiteren berühmten
Zentrum der altfranzösischen Schreibkultur, entstand. Der charakteristischen Schrift¬
zeichnung dieser und anderer Handschriften der Schule von Corbie wegen haben die
französischen Paläographen die erwähnte Schrift écriture de Corbie benannt. Sonst ge¬
hört sie mit ihrer Schriftkonstruktion unzweifelhaft zur Gruppe der merowingischen
Schriften, obwohl man manchmal auch eine gewisse Verwandtschaft mit den lango-
bardischen Schriften feststellen kann.
Erst im 8. Jahrhundert erreichte die merowingische Minuskel die Stufe einer Schrift
von kalligraphischem Typus. Dazu kam es infolge einer ziemlich plötzlichen Unter¬
brechung der merowingischen Schreibtradition, so daß man annimmt, der Impuls zu
diesem Umschwung sei von irgendeinem Benediktinerkloster ausgegangen, dem die
langobardisch-montecassinische Kalligraphie nicht unbekannt sein konnte. Das wird
z. B. aus der Brüsseler Handschrift der Homilien des hl. Caesarius (Tafel LVIII)
deutlich; sie ist bereits am Anfang des 8. Jahrhunderts mit einer Schrift geschrieben,
der man beachtliche graphische Qualitäten nicht absprechen kann. Sie stellt eine
sehr schöne Minuskel mit ausgewogenen Proportionen des Schriftbildes und ausgegli¬
chener Ordnung des graphischen Aufbaus dar. Doch auch sie erinnert mit den sehr
hohen Oberlängen der Buchstaben b, d, h, l immer noch an den kursiven merowingi¬
schen Ausgangspunkt, und es sind nicht nur diese, die im Alphabet der voll entwickel¬
ten merowingischen Minuskel (Abb. 161) darüber Zeugnis ablegen. Das geht schon
aus der Konstruktion des a hervor, das hier weiterhin in der ursprünglichen Form des
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i6i. Merowingische Minuskel, 8. Jahrhundert.
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