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iRg. Merowingische Kursiv, 7. Jahrhundert
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die MEROWINGISCHE SCHRIFT
Jahren 573-593 (594?) Bischof von Tours, den wir aus der Geschichte unter dem
Namen Gregor von Tours kennen. Doch nach seinem Tode gewann die frühmittel¬
alterliche Kultur auch im Frankenreich ein entschiedenes Übergewicht. Bis dahin
hatte als Gebrauchsschrift des fränkischen Reiches in Übereinstimmung mit dessen
kultureller Gesamtorientierung ein direkter Ableger der jüngeren römischen Kursiv
gedient. Es waren mehr lokale Deformationen als Modifikationen der Schriftkonstruk¬
tion die diese Schrift vielleicht schon während des 6. Jahrhunderts in die charakteri¬
stische MEROWINGISCHE SCHRIFT verwandelten. Bezeichnend ist, daß diese
nationale altfranzösische Schrift die ganze Zeit lang, während der sie in Gebrauch
war, ausgesprochen kursive Merkmale aufwies, obwohl sie gelegentlich auch zum
Schreiben von Buchhandschriften verwendet wurde. Im Laufe des 7. Jahrhunderts
stabilisierte sie sich in der Schreibstube der merowingischen Kanzlei in der entarteten
Form jener Urkundenkursiv, mit der die königlichen Dekrete des Frankenreiches bis
zur Mitte des 9. Jahrhunderts geschrieben sind. Diese merowingische Kursiv ist bestimmt
weder eme schöne noch eine besonders gut lesbare Schrift. In den Urkunden der
königlich merowingischen Kanzlei aus dem 7. Jahrhundert, wie z. B. im Diplom
Childeberts III. aus dem Jahre 695 (Tafel LVI), finden wir keine Spur einer graphi¬
schen Ordnung, sofern wir das fahrig Gekräuselte der Schriftzeichnung und das Chao¬
tische des graphischen Aufbaus nicht für beabsichtigt halten wollen. Die Grenzen des
Schreibsystems bleiben unberücksichtigt, desgleichen die Lesbarkeit der Worte, die
manchmal überhaupt nicht voneinander getrennt und ein andermal wieder - auch
in mehrere Teilstücke - zerrissen werden. In den eng aneinandergerückten Zeilen mit
leichter Linksneigung und in den zahlreichen, oft sehr kuriosen Ligaturen können wir
sogar kaum einzelne Buchstaben unterscheiden. Manche haben stark verlängerte
Oberlängen, die sich auch in den verhältnismäßig breiten Zeilenabständen mitein¬
ander verflechten oder oft in die oberen Zeilen Vordringen, wo sie das an sich schon
nicht mehr sehr deutliche schmale Bild anderer Buchstaben beeinträchtigen. Auch im
Alphabet dieser Merowingerkursiv (Abb. 159) ist die Zeichnung der einzelnen Buch¬
staben nicht stabil, und viele kommen in verschiedenen mehr oder weniger abwei¬
chenden und oft sehr merkwürdigen Abwandlungen vor. So z. B. hat das a einmal
einen offenen Bauch und ein andermal in derselben Urkunde die Form zweier schma¬
ler, eng aneinandergerückter cc, und dann wiederum ist es nahezu identisch mit dem
u, das in der merowingischen Kursiv fast immer wie das heutige kursive a mit ge¬
schlossenem Bauch geformt ist. Das с kommt oft in Gestalt zweier übereinanderlie¬
gender с als spiegelverkehrte arabische 3 vor. Seltsam geformt ist das d, dessen Schaft
tief unter die Fußlinie herabgezogen wird. Beim kurios zusammengesetzten g kann
man mehrere Formen feststellen. Das 0 wird wie eine Schleife mit verschiedenartig
geformter Krone aus dem Rest des Strichs am Kopf des Buchstabens geschrieben.
îe Buchstaben r und s sind auch hier schwer voneinander zu unterscheiden. Durch
Verlängerung und Krümmung des Querstrichs des Buchstabens t entsteht am Kopfende
des unten nach rechts gebogenen Schaftes ein Bauch. Gemeinsam ist dem ganzen
Alphabet die überwiegende Tendenz zur Verengung des eigentlichen Schriftbildes
er einzelnen Buchstaben und der zahlreichen Ligaturen sowie eine charakteristische,
bereits erwähnte Disziplinlosigkeit der ungleich hohen Buchstaben.
Auch die merowingische Kursiv war keine nur der Niederschrift von Urkunden
vorbehaltene Form. Sie diente von allem Anfang an, d. h. von der zweiten Häfte des
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