DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
Handschrift aus dem Jahre 951 ist außerdem ein besonders anschauliches Beispiel der
westgotisch-spanischen Kalligraphie des 10.-11. Jahrhunderts und stellt deren Gipfel
dar. Bei ihrer Schrift handelt es sich bereits um eine schöne Minuskel mit edlem,
kontrastreichem Duktus, ausgewogenen Proportionen des Schriftbildes und entwickel¬
ten Serifen nicht nur der langen, sondern auch der kurzen Schäfte.
Im Alphabet der voll entwickelten westgotischen Minuskel des 9.-11. Jahrhunderts
(Abb. 158) bleibt, obwohl sie sich bereits von den kursiven Elementen ihrer Anfänge
befreit zu haben scheint, doch noch eine kursive Zeichnung gewisser Buchstaben be¬
stehen, die in manchen Fällen zur ungenügenden Unterscheidung der Schriftzeichen
beiträgt. So hat beispielsweise die offene Zeichnung des я dieselbe Form wie das u, das
sich vom erstgenannten Buchstaben nur durch die geringere Krümmung des zweiten
Strichs und später durch Kopfserifen unterscheidet. Das d kommt in zwei Formen vor,
einer Unzial- und einer Minuskelform. Typisch ist das g in Unzialform mit lang¬
gestrecktem Schaft. Wo die Rundung des Schriftbildes geschlossener wirkt, kann es
zu einer Verwechslung mit dem q kommen. Das i wird sehr oft verlängert, bis es die
Höhe der Oberlängen erreicht, aber nicht selten auch J-artig nach unten gezogen.
Schwer zu unterscheiden sind die Buchstaben r und s. Das t hat die Form des heutigen
kursiven я mit geschlossenem Bauch, und in Verbindung mit dem i kommt eine selt¬
same Ligatur in Gestalt einer liegenden 8 zustande. Sehr interessant geformt ist das z,
das mit einem runden e-artigen Strich über die Mittelhöhe hinausragt. Die übrigen
Buchstaben sind sodann mit denselben Formen vertreten, die wir bei der langobardi-
schen Minuskel kennengelernt haben. Eine charakteristische Zeichnung haben jedoch
gewisse Ligaturen und Abkürzungen, vor allem et, ex und per. Im Laufe des 10. Jahr¬
hunderts dringt bereits die Buchschrift des Frankenreiches in die Pyrenäenhalbinsel
vor, um vor allem in Katalonien schnell zu überwiegen, aber die auch in Portugal ver¬
wendete westgotische Minuskel legt in manchen anderen Gegenden bis zum Beginn
des 12. Jahrhunderts als Buchschrift und bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts auch als
Urkundenschrift eine außerordentliche Vitalität an den Tag. Und zu diesem Zeitpunkt
ist auch das hervorragende westgotisch-spanische Buchschaffen, das im 11. Jahrhun¬
dert vor allem in den kastilischen Skriptorien mit wundervollen, durch das hohe Ni¬
veau der Schreibkunst wie durch die schöne ornamentale und illustrative Gestaltung
berühmten Kodizes seinen Höhepunkt erreichte, zu Ende. Das Erlöschen dieser be¬
wundernswerten heimischen Tradition des spanischen Buchschaffens und seiner früh¬
mittelalterlichen Schreibkunst muß jedoch notwendig mit dem Auftreten einer neuen
universalen Schriftform Zusammenhängen, die inzwischen nördlich der Pyrenäen her¬
angereift war, in einer Gegend, wo sich auf eine sehr charakteristische Weise eine
weitere ‘nationale’ Schrift der lateinischen Paläographie entwickelt hatte.
Im fränkischen Reich war der direkte Einfluß der altrömischen Kultur bis ins 6.
Jahrhundert lebendig geblieben, und die merowingische Periode hatte als Verbin¬
dungsglied zwischen der Antike und der ersten Renaissance der antiken Kultur, die
noch ins Frühmittelalter fällt, eine bedeutsame Rolle gespielt. In den Kloster- und
Episkopatsbibliotheken wurden im Verborgenen verbotene Kodizes nicht nur gelesen,
sondern auch abgeschrieben. Das war die Rettung der klassischen lateinischen Lite¬
ratur, die sich ohne diese Vermittlung sonst wohl kaum erhalten hätte. Eine hervor¬
ragende Persönlichkeit dieser Kulturorientierung war Georgius Florentius, in den
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158. Littera toletana, 9.-11. Jahrhundert.
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