DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
romanisiert und übernahmen mit der Sprache die lateinische Schrift. Während der
Südteil der Halbinsel schon früh durch die arabische Invasion vom Norden getrennt
wurde, entstanden im verbliebenen nördlichen und mittleren Landesteil bei den Kir¬
chen und Klöstern Skriptorien, deren bedeutendste sich in Toledo und Burgos be-
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igy. Palimpsest aus Oviedo, 8. Jahrhundert. Detail.
fanden. In der Frühzeit unterschied sich die römische Kursiv in Spanien kaum von
der italienischen Form, aber schon an der Wende des y. und 8. Jahrhunderts oder viel¬
leicht noch etwas früher beginnen auch in dieser Kursiv, die hier nicht nur zum Schreiben
von Urkunden, sondern auch literarischen Zwecken diente, gewisse lokale Merkmale
aufzutreten. Der Terminus Visigotica, WESTGOTISCHE SCHRIFT, wie diese alt¬
spanische Modifikation schon seit jeher in der paläographischen Literatur bezeichnet
wurde und es fast allgemein noch wird, muß nicht weniger Bedenken wachrufen als
der Name langobardische Schrift für die analogen italienischen Derivate der jüngeren
römischen Kursiv im frühen Mittelalter. Auch die Westgoten hatten keinerlei Einfluß
auf die Schriftentwicklung der Pyrenäenhalbinsel und konnten ihn nicht haben, wes¬
halb die Bezeichnung westgotische Schrift nur als Notlösung, als bloße Konvention
annehmbar ist, denn sie wurde, soviel mir bekannt ist, bisher noch nicht durch einen
ebenso eindeutigen und sachlich richtigeren Terminus ersetzt. Die ältesten Denkmäler,
in denen sich die westgotische Kursiv erhalten hat, stammen erst aus dem 8. Jahrhundert,
also aus der Zeit, da die westgotische Epoche der spanischen Geschichte bereits vor¬
über war. Es handelt sich nur um einige wenige Urkunden- und Buchdenkmäler, in
denen, wie z. B. im Palimpsest aus dem Escorial mit einem Textfragment des hl.
Augustinus, das vielleicht schon in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in Oviedo
geschrieben wurde (Abb. 157), diese Kursiv eine kleine, kursiv nach links geneigte und
schnell geschriebene Schrift darstellt. Ihr Alphabet (Abb. 156) ist durch die Zeichnung
einiger Buchstaben gekennzeichnet, mit der es sich von anderen aus der jüngeren
römischen Kursiv abgeleiteten Schriften unterscheidet. Die kursive Form des a mit
offenem Bauch wird so stark geneigt, daß der Buchstabe mehr an das e in der spiegel¬
verkehrten Form der Zahl 3 gemahnt. Das e selbst kommt in etwa derselben Form vor,
die wir bei der langobardischen Schrift kennengelernt haben. Überaus typisch für die
westgotische Kursiv ist ein zweibäuchiges g, das jedoch merkwürdigerweise ganz in
die mittlere Schrifthöhe hineingezwängt worden ist. Voneinander schwer zu unter¬
scheiden sind manchmal die Buchstaben p und q, deren gemeinsame Form an ein
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WESTGOTISCHE SCHRIFT
archaisches QJn Gestalt eines auf eine Vertikale aufgesetzten Ringes erinnert. Typisch
auch die kuriose Form des t mit linkem Bauch, dessen Zeichnung, vor allem am Ende
eines Wortes, der griechischen Minuskel sigma nahesteht. Nicht minder typisch sind
einige nur der westgotischen Schrift eigene Abkürzungen, die zwar die Schreibge¬
schwindigkeit erhöht, aber die Lesbarkeit beträchtlich vermindert haben. Trotzdem
blieb die westgotische Kursiv fast bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts in Gebrauch,
wenn sich damals in Spanien auch bereits der Einfluß der jenseits der Pyrenäen gele¬
genen Schriftschulen stark bemerkbar machte.
Gleichzeitig mit dieser westgotischen Kursiv, die auch für literarische Handschriften
verwendet wurde, begann sich eine besondere formale Buchminuskel zu entfalten, die
westgotische Minuskel, spanisch escritura sentada ó redonda genannt. Diese Entwicklung
verlief anfangs nur sehr langsam, und darum unterschied sich diese Buchschrift in
den ältesten Dokumenten der westgotischen Minuskel nur sehr wenig von der Ur¬
kundenkursiv, indem sie vielleicht etwas mehr Sorgfalt bei der Ausführung der ein¬
zelnen Buchstaben, die jedoch nunmehr größtenteils getrennt geschrieben wurden,
verrät. Das Fehlen einer folgerichtigen graphischen Ordnung in den altspanischen
Buchhandschriften war übrigens von langer Dauer und kennzeichnet die Entwicklung
der westgotischen Minuskel fast bis ins 9. Jahrhundert, obwohl zu dieser Zeit bereits
verschiedene Kalligraphieschulen im Zentrum und im Norden der Pyrenäenhalbinsel
tätig waren, die sich voneinander natürlich mehr oder weniger durch den ihnen eigenen
lokalen Duktus unterschieden. Die Stufe einer Schrift des kalligraphischen Typus er¬
reichte die westgotische Minuskel angeblich zuerst im mittelspanischen Toledo, und
von da rührt auch ihre mittelalterliche Bezeichnung littera Toletana her, die in den
schriftlichen Quellen schon im 13. Jahrhundert vorkommt. Mit den erhaltenen Denk¬
mälern des spanischen Schreibwesens des Frühmittelalters kann man dies jedoch leider
nicht nachweisen. Denn sie lassen vielmehr auf die führende Stellung der Kalligraphie
der nordspanischen Klöster schließen, obwohl auch von dort nicht viel erhalten ist,
weil diese Klosterbibliotheken im Lauf der Zeit zum Großteil vernichtet und ihre
Bücher verstreut wurden.
In den Handschriften des g. Jahrhunderts ist die westgotische Minuskel in der
Zeichnung zwar bereits voll entfaltet, aber zu einer kalligraphischen Schrift hat sie es
ohne Zweifel immer noch weit. Sie wird mit einer nur leicht zugeschnittenen Feder
geschrieben, so daß sie fast keinen Strichstärkewechsel aufzuweisen hat. Auch ordnet
sie sich nicht in Zeilen ein, was von keiner besonderen Sorgfalt des Schreibers zeugt. Die
Buchstabenschäfte werden zwar oben noch keulenförmig verstärkt, aber manchmal
treten bereits im schrägen Ansatz der Striche angedeutete Serifen auf. Im Übrigen
ist hier die kursive Herkunft weiterhin offenkundig, und zwar nicht nur in der Schrift¬
zeichnung, sondern auch in den zahlreichen Ligaturen. Einen gewissen Fortschritt
bedeutet jedoch eine Schrift, die in Manuskripten des 10. Jahrhunderts vorkommt und
mit einer nunmehr bereits breiteren Feder geschrieben ist. Das bringt einen stärkeren
Kontrast der Haar- und Schattenstriche in dem verhältnismäßig breiten Schriftbild
mit sich. Was an der Schrift dieser Handschriften jedoch als außerordentlich bemer¬
kenswert gelten muß, sind die schrägen Serifen der langgestreckten Oberlängen, die
für die voll entwickelte westgotische Minuskel besonders typisch sind. Sie strecken
sich später und spitzen sich zu, wie man aus einer Seite der Abhandlung De virginitate
Mariae aus der Feder des hl. Alfons, Bischofs von Toledo (Tafel LV), ersieht. Diese
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