DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
Dauer, denn schon im 9. Jahrhundert beginnt in der Buchproduktion eine fremde
Schrift Vorrang zu haben: die Buchminuskel des fränkischen Reiches. Weit günstigere
Bedingungen hatte die bisher behandelte Entwicklung in Süditalien, wo inzwischen
hervorragende Schriftschulen entstanden waren, von denen die des Benediktiner¬
klosters Monte Cassino den größten Ruhm erlangte. Dort entstand auch zweifellos
jene außerordentlich schöne und mit der Zeit verfeinerte kalligraphische Minuskel,
die sich von da auch in andere süditalienische und sogar dalmatinische Benediktiner¬
klöster verbreitete, wo sie bis zum Ende des 13. Jahrhunderts nicht nur als Buch-,
sondern auch als Urkundenschrift in Gebrauch blieb. Sie stellte zwar nicht die einzige
Schriftform dieser Schulen dar, aber bestimmt die bedeutendste und typischste, die
Vorzugsschrift der besten Schreiber. Bis vor kurzem wurde diese Schrift allgemein
den langobardischen zugeordnet, wenn auch nur in territorialer Hinsicht, aber auch
das wird heute manchmal nicht mehr für richtig gehalten. Daraus ergibt sich teils
auch das weitgehend Uneinheitliche der für diese hochentwickelte italienische Schrift¬
form in Betracht kommenden Bezeichnungen. Deren älteste, schon im Mittelalter ver¬
wendete lautete littera beneventana. In der paläographischen Literatur wird diese viel¬
leicht nicht ganz genaue Bezeichnung verschiedenartig abgeändert, z. B. in lango-
bardisch-montecassinische, langobardisch-beneventanische, montecassinisch-beneven-
tanische Schrift u. ä. Mit all diesen Bezeichnungen ist dieselbe kalligraphische Form
des 10. und der beiden folgenden Jahrhunderte gemeint, der jedoch eine längere Ent¬
wicklung aus weniger anspruchsvollen älteren Schriften dieses Umkreises der Schönen
Schreibkunst vorausging, und meiner Ansicht nach kann eine nähere Verwandtschaft
der letztgenannten Schriften mit der langobardischen Kursiv und älteren, hier nicht
angeführten Schriften der langobardischen Besitzungen in Nord- und Süditalien nicht
in Bausch und Bogen abgelehnt werden.
Mit der Zeit schnitten die Skriptoren von Monte Cassino ihre Federn immer breiter
zu und gewöhnten sich daran, sie in einem Winkel von 45 Grad zur Zeilenhorizontalen
zu halten, an dem sie konsequent festhielten. Das führte zu einem radikalen Strich¬
stärkewechsel der Diagonalen, dem zuliebe auch die Zeichnung der runden Buch¬
staben eckig gestaltet wurde. Doch das war noch nicht genug. Dasselbe graphische
Prinzip wurde auch auf die Schäfte angewandt, deren Vertikalen in schweren, schräg
gestellten Quadraten am Anfang und Ende des Strichs verlorengingen. So gewann
der dekorative Charakter in der Schrift der süditalienischen Benediktinerklöster seit
dem 11. Jahrhundert ein entschiedenes Übergewicht, und die solchermaßen orientierte
Kalligraphie wurde in den Handschriften der beiden folgenden Jahrhunderte fast zum
Selbstzweck, zum Spiel. Die Textseite derartiger Handschriften, wie z. B. der Com-
mentaria S. Gregorii super Librum Job aus dem 12. Jahrhundert (Tafel LUI) oder
der Vitae patrum Cavensium aus dem 13. Jahrhundert (Tafel LIV), die beide im
Kloster La Cava bei Neapel, einem anderen nicht weniger berühmten Zentrum der
süditalienischen Kalligraphie, geschrieben wurden, hat sich zu einer ornamentalen
Fläche verwandelt, die in ein System rhombisch gefleckter Zeilenfelder aufgeteilt ist.
Einen Ausgleich bilden nur die Vertikalen der fetten Schäfte der Buchstaben b, h
und l. Es ist dies eine prächtige Kalligraphie, die sicherlich höchstes Lob verdient,
aber bei dieser Vollkommenheit befand sich ihre Entwicklung notwendig in einer
Sackgasse. Was danach kam, war nur noch sterile Wiederholung, geistlose Reproduk¬
tion einer bereits vollendeten und überlebten Form.
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153. Littera longobarda, 8.-д. Jahrhundert.
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