EINFÜHRUNG
weiser verwendet werden, verschiedene Symbole, Zeichen und andere Markierungen,
von denen viele ihre Gültigkeit bis in historische Zeiten, einige bis in die Neuzeit und
sogar bis heute bewahrt haben. Es sind dies nach wie vor einfache Mittel zur Kenn¬
zeichnung von Hindernissen, Wegen u. ä. Auf dieser Vorstufe der Schrift begegnen
wir einer Vielfalt verschiedener, aber zahlenmäßig und in der Reichweite stark be¬
grenzter Formen einer Art primitiver Hinweise, die man jedoch nur sehr bedingt mit
wirklichen Schriftformen in Zusammenhang bringen kann. Näher kommen wir der
Schrift in der zweiten Kategorie ihrer Vorstufen, in deren Dokumenten wir zwar die
Forderung bezüglich des mitteilenden Charakters nicht erfüllt finden oder nicht fest¬
stellen können, wo aber die Spuren einer graphischen Äußerung evident sind. Solche
Äußerungen werden nunmehr als zeichnerische Vorstufen der Schrift (Jensen) oder sehr
weit gefaßt als Ikonographien bezeichnet, d. h. Darstellungen von Naturobjekten durch
isolierte, untereinander nicht zusammenhängende, fragmentarische und statische Zeich¬
nungen oder Malereien (Diringer), ob es sich nun um Zeichnungen und Gravierungen
in Bein, um Höhlen- und Felsmalereien (Petrogramme) oder um Felsgravierungen
(Petroglyphen) von der Wende der Alt- und der Jungsteinzeit, also ungefähr aus der
Zeit vor zehn- bis fünfzehntausend Jahren, oder um viel jüngere ähnliche Äußerungen
einer künstlerischen Tätigkeit primitiver Völkerschaften oder gar um erst kürzlich
entstandene Eigentums-, Haus-, Steinmetz-, Töpfer-, geometrische Zeichen u. a.
handelt.
Die ersten Dokumente solcher Kunstbetätigung aus der Endphase der Altsteinzeit
zeugen von einer zunehmenden Intensität des geistigen Lebens der Menschen, die in
sich selbst eine neue schöpferische Kraft entdeckten : die Fähigkeit, darzustellen. Das
geschah, als die ersten Maler und Bildhauer in der Geschichte der Kunst und der
Menschheit zu wirken begannen. In diesem großen Augenblick erhielt der Mensch
ausgiebige Hilfe in seinem Streben nach vollkommenerer Aufzeichnung seiner Ge¬
danken und ihrer Mitteilung. Der primitive Mensch konnte auf dieser Zivilisations¬
stufe zwar das, was er sagen wollte, noch nicht im ganzen Umfang und so eindeutig
festhalten, aber er konnte es bereits teilweise zeichnen oder malen, und das ist schon
sehr viel. Diese Bildvermerke oder Piktogramme sind in der Richtung zur Schrift
weiter entwicklungsfähig und stellen somit deren eigentlichen Ausgangspunkt dar. Der
Fortschritt wird sodann in jenen Fällen ähnlicher künstlerischer Äußerungen offenbar,
in denen man schon ganz unzweifelhaft die Erfüllung auch der zweiten grundlegenden
Forderung, die wir bei der Schrift geltend machen, feststellen kann: der beabsichtigten
Aufzeichnung oder Mitteilung. Doch hier handelt es sich bereits um wirkliche Schrif¬
ten, Bilderschriften, mit denen zunächst gewöhnlich ein ganzer Gedanke oder eine Ge¬
dankenfolge durch das Bild umschrieben wird, also in Form einer symbolischen Auf¬
zeichnung, deren Lesung daher nicht immer gleichlautend sein kann. Die einzelnen
Piktogramme sind hier zwar in einem gewissen wechselseitigen Zusammenhang mit¬
einander verbunden und somit imstande, eine ganze Begebenheit oder einen Gedan¬
kenkomplex mitzuteilen, aber sie stehen bisher in keinerlei Beziehung zur Sprache
oder zum Sprachaufbau. Dieser charakteristischen Merkmale, der Synthetik des Aus¬
drucks des ganzen Gedankens, der Idee wegen werden diese ersten wirklichen Schriften
als synthetische Schriften (Février, Diringer) oder synthetische Bilderschriften (Istrin) oder
auch ideographische Bilderschriften (Jensen) definiert. Die Piktogramme werden zu Ideo¬
grammen, indem einige von ihnen die übertragene Bedeutung einer primären sach-
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EINFÜHRUNG
liehen Darstellung erhalten, um die notwendigsten Allgemeinbegriffe auszudrücken.
Verschiedene Hilfszeichen unterstützten die gegenseitige Beziehung der dargestellten
Gegenstände, zum Beispiel Determinative für Eigennamen, und einfache zeichnerische
Elemente wie Striche, Punkte u. ä. erleichterten die Mitteilung von Zeit, Entfernung
und anderen quantitativen Begriffen. Je ausführlicher und detaillierter eine ideogra¬
phische Mitteilung oder Aufzeichnung sein sollte, um so mehr einzelne Piktogramme
und Ideogramme wurden benötigt, so daß praktisch jeder Begriff ein besonderes Zei¬
chen haben mußte. Der zeichnerische Charakter derartiger Symbole war in jedem
piktographisch-ideographischen System ein anderer und auch ihre künstlerische Qua¬
lität war verschieden, je nach der nationalen Begabung und dem kulturellen Gesamt¬
zustand. Die Piktogramme und Ideogramme können daher sehr primitiv sein und
sind es auch oft, aber ebensogut können sie außerordentlich schöne zeichnerische Ab¬
kürzungen sein, wovon wir uns später noch überzeugen werden. Die ideographische
Bilderschrift ist das erste mit Sicherheit feststellbare Glied in der Entwicklung aller
Primärschriften der Welt. Wenn sie gegenüber höher entwickelten Formen der Schrift
auch noch eine ganze Reihe von Mängeln aufwies, war es anderseits ihr nicht zu
unterschätzender Vorteil, daß sie theoretisch völlig unabhängig von der Sprache war,
deren Kenntnis keine unerläßliche Voraussetzung ihrer Lesbarkeit darstellte. Diese
Eigenschaft sicherte den Piktogrammen und Ideogrammen eine bis in unsere Zeit
dauernde Gültigkeit, und zwar überall dort, wo es sich um eine schnelle und jedem
ohne Sprachkenntnisse verständliche Mitteilung handelte wie bei den internationalen
Straßenverkehrszeichen, den Eisenbahn-Kursbüchern, den Zeichen der geographi¬
schen Landkarten usw. Ideogramme sind auch unsere Ziffern.
Früher oder später mußte auch in den synthetischen ideographischen Schriften eine
Beziehung zur Sprache auftreten, und zwar sobald das gesellschaftliche Bedürfnis
eines genauen Festhaltens komplizierter Gedankenreihen entstand. In die bis dahin
charakteristisch beliebige Menge von Zeichen, die übrigens zeichnerisch meist noch
nicht stabil waren, mußte jedoch irgendeine apriorische Ordnung, eine verpflichtende
Konvention hineingebracht werden. Zu diesem System gelangte man durch die Zer¬
gliederung des Gedankenkomplexes in seine einzelnen Hauptkomponenten oder durch
die Zergliederung des Satzes in Worte. Daraus folgte unausweichlich der Zusammen¬
hang zwischen dem Bildzeichen und dem Wort. Das Bildzeichen übernahm die Aus¬
drucksfunktion eines einzigen Wortbegriffs und das Pikto- oder Ideogramm verwandelte
sich zum Logogramm. So entstanden die Wort-Bildschriften (Wort-Bildschrift I, Jen¬
sen), die manchmal als analytische Schriften (Diringer, Février) oder als logographische
Schriften bezeichnet werden. Der letztgenannte Fachausdruck ist vielleicht der ge¬
naueste, denn er besagt zugleich, daß es für die Beurteilung derartiger Schriftsysteme
keineswegs entscheidend ist, ob ihre Zeichen noch ihren primären Bildcharakter be¬
wahrt haben oder nicht (Istrin). In dieser Gruppe analytischer logographischer Schrif¬
ten, die als erstes Stadium der eigentlichen Entwicklung der Schriftsysteme gelten
müssen, begegnen wir bereits einigen historischen Schriften, denen wir später mehr
Aufmerksamkeit widmen werden, wie z. B. den ersten Keilschriften, der ägyptischen,
hethitischen Schrift u. a. Die auf diesem System fußende ist bereits eine wirkliche
Schrift, die jeden Gedanken schriftlich festzuhalten vermag. Unter günstigen Bedin¬
gungen wie z. B. in China hat sie sich bis heute erhalten. Um ihrem Zweck jedoch
voll zu entsprechen, mußte sie einen großen Vorrat an Zeichen erhalten, praktisch
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