DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
Während die seit dem io. Jahrhundert etwa so beschaffene langobardische Kursiv
in den langobardischen Gebieten Norditaliens allmählich von einer fränkischen Schrift
von anderem Typus verdrängt wurde, bis sie ganz verschwand, legte sie in den lango¬
bardischen Fürstentümern Süditaliens, wo die Entwicklung des altitalienischen Schrift-
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152. Urkunde aus Gaeta, g 14. Detail.
Schaffens mit weniger Unterbrechungen vor sich ging, eine stärkere Lebenskraft an
den Tag. Hier war es auch, wo sie sich, vor allem in den Kanzleien der Notare, zu
einer Schrift von ausgeprägter Eigenart entwickelte, weshalb sie oft auch als süditalie¬
nische Notarkursiv bezeichnet wird. In älteren Urkunden unterscheidet sich diese Schrift
noch nicht allzusehr von der langobardischen Kursiv, vielleicht nur durch ein noch
kleineres Schriftbild und längere, mit Schleifen versehene Schäfte. Später, z. B. in der
Notariatsurkunde von Gaeta aus dem Jahre 914 (Abb. 152), treten auch in der Zeich¬
nung mancher Buchstaben charakteristische Veränderungen auf, vor allem beim e,
das der arabischen Zahl 8 ähnelt, und beim t in Gestalt eines Ringes mit der horizon¬
talen Tangente unseres kursiven 0. Aus diesen Formen, vor allem aber aus der ab¬
weichenden Form des Buchstabens a, kann man jedoch schließen, daß diese Kursiv,
die bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts in Gebrauch blieb, obwohl sie der immer
schwierigeren Lesbarkeit infolge der vielen Ligaturen wegen durch kaiserliche Dekrete
wiederholt verboten wurde, zweifellos schon dem Einfluß der Schrift der päpstlichen
Kanzlei unterlag, der wir später besondere Aufmerksamkeit widmen werden.
Einen unzweifelhaften graphischen Zusammenhang mit der sogenannten lango¬
bardischen Kursiv zeigen die schönen Formen jener Buchhandschriften, die aus mehre¬
ren durch ihre Kalligraphie berühmten Benediktinerklöstern in den langobardischen
Besitzungen Süditaliens hervorgegangen sind. Wenn auch keine dieser im erwähnten
Bereich verwendeten Schriften als nationale Schrift der Langobarden gelten kann,
ist die Bezeichnung langobardische Minuskel oder langobardische Buchschrift, die heute von
einigen Forschern durchaus zu Recht als unrichtig abgelehnt wird, dennoch, soviel
mir bekannt ist, bisher nicht durch einen gleicherweise eindeutigen Terminus ersetzt
worden. Als langobardisch, littera longobarda, wurde die Schrift dieses Zweigs der La¬
teinschrift übrigens schon lange bezeichnet, z. B. in einem Inventar aus Monte Cas¬
sino von 1497 (Friedrich), und es ist daher vielleicht nicht notwendig, sich umzustellen,
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LANGOBARDISCHE SCHRIFT
zumal die moderne Paläographie auch bei den altspanischen Schriften die traditio¬
nelle Bezeichnung nicht aufgegeben hat und sie weiterhin westgotische Schriften nennt,
obwohl sie ebensowenig nationale Schriften darstellen wie jene, die sich in Italien
auf langobardischem Gebiet seit dem 7. Jahrhundert aus der jüngeren römischen
Kursiv und ihrer Modifikation, der Buch-Halbkursiv, entwickelt haben. Mit der tra¬
ditionellen Bezeichnung sind diese italienischen Buchschriften des frühen Mittelalters
somit wenigstens lokal als für unsere Zwecke befriedigend umschrieben, was nicht
ganz ohne Bedeutung ist, weil sie nicht die einzigen altitalienischen Buchschriften
dieser Epoche darstellen.
Die Entwicklung der langobardischen Buchschrift verlief anfangs in den nord- wie in
den süditalienischen langobardischen Besitzungen parallel, und ähnlich verhielt sich
dies noch eine Zeitlang nach dem Ende des 8. Jahrhunderts, in dem das Langobarden¬
reich in Norditalien von Karl dem Großen vernichtet und damit die einheitliche
Entwicklung unterbrochen worden war. Wenngleich die entlegenen langobardischen
Fürstentümer Süditaliens danach zum Schauplatz einer ruhigen, von äußeren Ein¬
flüssen ungestörten Entwicklung wurden, ließen die Schreiber einer ganzen Reihe
norditalienischer Schulen wie jener von Bobbio, Verona, Lucca und Novara diese
heimische Entwicklungslinie doch nicht sofort fallen. Doch hier war die italienische
Schriftkunst zahlreichen fremden Einflüssen ausgesetzt, und darum hatten die Schrif¬
ten dieser verschiedenen norditalienischen Zentren, obwohl sie vom gleichen Prototyp
Ausgang nahmen, dennoch keinen uniformen Duktus. So macht sich beispielsweise in
der Kalligraphie der Kodizes aus dem Kloster Bobbio überwiegend der persönliche
Anteil irischer mönchischer Schreiber bemerkbar, während anderswo stärkere Ein¬
flüsse der römischen Halbunziale zur Geltung kommen und wiederum andernorts
manche wenn auch bescheidene kursive Elemente eine gewisse Ungleichmäßigkeit
des Duktus zur Folge haben. Nichtsdestoweniger bleibt der langobardische Territo¬
rialcharakter auch in manchen norditalienischen Handschriften weiter sichtbar, wie
unser Beispiel aus dem in Berlin befindlichen Kodex Anonymi Excerpta Chronicorum
beweist, der etwa im 8.-9. Jahrhundert in Verona geschrieben wurde (Tafel LI).
Denselben Charakter läßt auch die Schrift der Pariser Handschrift Servii commen-
tarius in artem Donati erkennen, die in den Jahren 779—797 Monte Cassino ent¬
stand (Tafel LII). Diese Übereinstimmung ist meiner Ansicht nach ein klarer Beweis
dafür, daß die Buchschrift beider Schulen im nord- und südlangobardischen Bereich
aus gemeinsamer Wurzel gewachsen ist. Doch diese einheitliche langobardische Buch¬
schrift kennzeichnet zu diesem Zeitpunkt nicht nur der erwähnte Gesamtcharakter,
sondern auch dieselbe graphische Zusammensetzung des Alphabets (Abb. 153). Denn
hier findet sich dieselbe Zeichnung des Buchstabens a in Gestalt eines doppelten cc,
wie wir sie aus der langobardischen Kursiv kennen, obwohl fakultativ auch die ge¬
schlossene, von der Unziale abgeleitete Minuskelform dieses Buchstabens mit einem
Bauch vorkommt. Beide Handschriften enthalten dieselbe bislang noch der Majuskel
verwandte Form des Buchstabens t. Nur das e scheidet beide Schriften ein wenig
voneinander. Während die süditalienische bisher noch an seiner kursiven langobar¬
dischen Form festhält, nähert sich dieser Buchstabe in der jüngeren norditalienischen
Handschrift der Halbunzialform. In anderen norditalienischen Handschriften dieser
Zeit hat das e jedoch gleichfalls noch seine langobardische Form.
Die Entwicklung der heimischen Buchschriften war in Norditalien nicht von langer
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