DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
sischen Halbunziale haben wir zugleich sämtliche Formen der Halbunziale überhaupt
ausgeschöpft, und wir werden dieser somit in der weiteren geschichtlichen Abfolge
in der Lateinschrift nicht mehr begegnen. Höchstens in Hinweisen auf ihren allfälligen
Einfluß auf gewisse andere Formen unserer Schrift wird ihrer noch Erwähnung getan
werden. Am Ende dieser Übersicht können wir jedoch nicht umhin, einen Versuch zu
erwähnen, der in England unternommen wurde, um diese altertümliche Form in der
modernen Zeit zu beleben. Ähnlich wie im Falle der ‘modernen Unziale’ waren die
Initiatoren dieser verspäteten Wiedergeburt der Halbunziale gewisse Anhänger der
sogenannten Schrifterneuerungsbewegung vom Ausgang des vorigen und Beginn un¬
seres Jahrhunderts, darunter vor allem Edward Johnston, der auch die Vorlagen zu
einer solchen modernisierten Halbunziale zusammen mit Beispielen ihrer Anwendung
bei einigermaßen anachronistischen kalligraphischen Aufgaben publizierte. Es hat
jedoch den Anschein, daß Johnston und seine Nachfolger bei diesen Bestrebungen
nur vorübergehenden Erfolg verzeichnen konnten, ebenso wie das bei ihren allerdings
noch weit weniger aussichtsreichen Bemühungen, die Unziale in der Funktion einer
modernen Schrift wiederzuleben, der Fall gewesen war.
Auf dem europäischen Kontinent begann sich der typische Charakter der soge¬
nannten nationalen Schriften etwa zu gleicher Zeit geltend zu machen wie in der
irischen und angelsächsischen Kalligraphie, wenn auch unter anderen Bedingungen
und mit den Modifikationen eines anderen Prototyps. Auf der Apenninenhalbinsel
z. B. kam der eigenartige Charakter zunächst nur in Urkunden und Buchhandschriften
aus den Schreibkulturzentren der langobardischen Fürstentümer Nord- und Süd¬
italiens zum Ausdruck. In der älteren paläographischen Literatur werden diese Schrif¬
ten daher insgesamt zu einer einzigen Gruppe zusammengefaßt und alsLANGO-
BARDISCHE SCHRIFT bezeichnet, aber dieser Terminus ist nicht zutreffend genug
und auch historisch nicht zu rechtfertigen. Graphisch verzweigten sich die ‘langobar¬
dischen’ Kursiv- und Buchschriften jedoch auf Grund ihrer verschiedenen Eigenent¬
wicklung zu vielen Abarten, und darum ist es besser, diese einzelnen Kategorien
getrennt zu untersuchen. Vom historischen Gesichtspunkt aus ist es nicht weniger
bedenklich, jedwede Schrift als langobardisch zu bezeichnen. Die Langobarden, mit
deren Invasion nach Italien die Wanderung der germanischen Stämme zu Ende war,
paßten sich ihrer neuen Umgebung dermaßen an, daß sie im Laufe von zwei Jahr¬
hunderten ihren nationalen Charakter völlig einbüßten. Sie nahmen nicht nur das
Christentum und die Lebensweise, sondern auch die Sprache der unterworfenen ein¬
heimischen Bevölkerung an und selbstverständlich auch deren Schrift. Daß die Lango¬
barden bei diesem Sachverhalt irgendwie zur Entwicklung der römischen Kursiv bei¬
getragen hätten, ist somit überhaupt nicht wahrscheinlich, und die Entwicklung hätte
sicherlich auch dann die gleiche Richtung genommen, wenn diese germanischen
Eroberer nie nach Italien gekommen wären. Aus der langobardischen königlichen
Kanzlei hat sich überdies nicht eine einzige Originalurkunde erhalten, und die Kursiv
der langobardischen Fürstentümer unterschied sich in keiner Weise von der zeitge¬
nössischen Urkundenschrift der oströmischen Besitzungen in Italien. Aus diesem Grund
nimmt man in neuerer Zeit manchmal von der Bezeichnung langobardische Schrift
Abstand und spricht an deren Stelle von der altitalienischen Schrift. Dieser Begriff ist
jedoch leider viel zu breit, um,wie ich befürchte, die zwar sehr ungenaue, aber we-
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14g. Angelsächsische Minuskel, 8.-11. Jahrhundert.
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