DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
Partie des Bogens verbunden. Die Diagonale der Majuskelform des n verläuft in der
Regel bereits waagrecht auf der Fußlinie; manchmal ist die Zeichnung dieses Buch¬
stabens in zwei Teile geteilt, als ob er aus einem L und einem I zusammengesetzt
wäre. Im Ganzen handelt es sich jedoch um eine graphisch außerordentlich schöne
Schrift, und es überrascht daher nicht, daß sie in der kirchlichen Literatur bis zum
Ende des 9. Jahrhunderts in Gebrauch blieb.
Die irisch-angelsächsische Halbunziale war eine zweifellos sehr anspruchsvolle Schrift,
weshalb sich ihre Verwendung nur auf die kostspieligen Prachtkodizes beschränkte,
bei deren Anfertigung es sicher weniger auf die notwendige Zeit ankam als auf die
erlesene kalligraphische Ausführung. Darum hatten die Iren auch noch eine andere,
weniger schwierig auszuführende Schriftform, die jedoch vom selben Vorbild, der
römischen Halbunziale, abgeleitet war. Diese zweite Form der irischen Schrift ist somit
nichts anderes als eine weitere Modifikation der römischen Halbunziale, in der ge¬
wisse Buchstaben, die bisher von Majuskeltypus waren, durch eine kursive Verein¬
fachung der Schriftzeichnung Minuskelform erhalten haben. Es kann auch keinem
Zweifel unterliegen, daß diese IRISCHE MINUSKEL sehr bald danach entstand,
als die erste Form der irischen Nationalschrift aufgetreten war. Sicher waren prak¬
tische Gründe die Ursache, daß es spätestens an der Wende des 6. und 7. Jahrhunderts
dazu kam, denn im Book of Keils sind manche Texte bereits sogar mit einer orna¬
mental gestalteten Minuskel geschrieben, was darauf schließen läßt, daß die irische
Minuskel in der Mitte des 7. Jahrhunderts formal schon völlig stabilisiert war. Sie
diente wahrscheinlich vor allem als Urkundenschrift, aber schon im 8. Jahrhundert
wurde sie zugleich zu einer Buchschrift und blieb als solche bis ins Spätmittelalter in
Gebrauch. Während dieser langen Zeit entwickelte sie sich zu einer vollendeten Buch¬
schrift, die vor allem durch eine gewisse Schärfe - daher irische Spitzschrift genannt -
und überwiegende Vertikalität des Duktus gekennzeichnet ist, also durch eine im
Vergleich mit der irischen Halbunziale völlig entgegengesetzte Tendenz, denn die
letztere betonte mehr die Horizontalen. Vornehmlich so beschaffen ist die Schrift des
am häufigsten als Beispiel für die irische Minuskel angeführten Maelbright-Evange-
liars aus dem Jahre 1138 im British Museum, aber ein besseres Beispiel des konsequen¬
ten Duktus dieser Minuskel ist sicher das Psalterium gallicanum glossatum, das gleich¬
falls aus dem 12. Jahrhundert stammt (Tafel XLVIII).
Die Beispiele dieser Handschriften zeigen als Hauptmerkmal des Alphabets der
irischen Minuskel (Abb. 147) kleinere Maße und eine schmälere Schriftzeichnung, die
jedoch in der Konstruktion bis auf gewisse Ausnahmen dieselbe ist wie bei der irischen
Halbunziale. Während beispielsweise das cL seine Unzialform behält, hat das r eine
ganz neue Form, in der man, ein wenig wie in der angelsächsischen jüngeren Halb¬
unziale, sehr anschaulich die kursive Umwandlung der Majuskel feststellen kann.
Bauch und Fuß sind zu einem einzigen Zug verbunden, der jedoch bis zur Fußlinie
hinabreicht, so daß dieser Buchstabe hier etwa die Form der heutigen Minuskel n oder
öfter des heutigen handschriftlichen p hat. Das j zeigt seine lange Kursivform, die der
Minuskel r mit stets unter die Fußlinie herabgezogenem und scharf abgeschlossenem
Schaft ähnelt. Mit scharfen Spitzen enden unten auch die Schäfte der übrigen Buch¬
staben, deren Mehrzahl im Alphabet der irischen Minuskel im wesentlichen mit der
Halbunzialform vertreten ist, das n ausgenommen, das hier bereits seine Minuskel¬
form hat.
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IRISCHE MINUSKEL
Dieselben Motive, die zur Entstehung der irischen Minuskel führten, ließen im
8. Jahrhundert auch deren Derivat, die ANGELSÄCHSISCHE MINUSKEL, ent¬
stehen. Diese war anfangs wiederum eine sehr nahe Variante ihres Vorbilds, unterlag
aber später einander überschneidenden Einflüssen, die ihre Entwicklung in zwei Haupt¬
linien teilte. Deren erste folgte auch weiterhin der irischen Minuskel, während sich
die zweite beträchtlich von ihr entfernte. In der ersten Form kommt in Übereinstim¬
mung mit der Entwicklung der irischen Minuskel eine Tendenz zur noch engeren und
schmäleren Zeichnung des Schriftganzen wie der einzelnen Buchstaben zum Ausdruck,
wie es die schon im 8. Jahrhundert entstandene Buchhandschrift Orationes in vigilia
ad ascensionem (Tafel XLIX) zeigt. Die zweite Form hingegen hält auch weiterhin
an jenem sehr breiten Schriftbild fest, das die angelsächsische Halbunziale kenn¬
zeichnet. Von dieser unterscheidet sich die erwähnte Minuskel nicht einmal durch
einen kursiveren Duktus. Das läßt auf den ersten Blick jene Minuskel erkennen, die in
den Fragmenten des Evangeliars von Hereford aus dem 9. Jahrhundert (Tafel L) ein
besonders schönes Beispiel der angelsächsischen Schreibkunst dieser Art darstellt. Im
Alphabet dieser zweiten Form der angelsächsischen Minuskel (Abb. 149) finden sich
also nicht viele konstruktive Abweichungen von der irisch-angelsächsischen Halb¬
unziale. Nur die Majuskelform des Buchstabens n ist hier durch die gewohnte Minus¬
kelform ersetzt. Im übrigen begegnen wir hier der Minuskelvariante des r in Gestalt
unseres handschriftlichen p, der Langform des s u. a. wieder. Grundsätzlichere Wand¬
lungen der Schriftzeichnung treten erst im 10. Jahrhundert, also bereits in der Ver¬
fallszeit der angelsächsischen Minuskel auf.
Die irische Minuskel und die von ihr abgeleitete erste, spitze Form der irisch¬
angelsächsischen Minuskel regten die Entstehung und Entfaltung einer fast identischen
Minuskel in Schottland an, die als sogenannte schottische Spitzschrift manchmal bei
handschriftlichen Denkmälern aus dem 12. und 13. Jahrhundert besonders angeführt
wird. Zu diesem Zeitpunkt war die Gotisierung ihrer Zeichnung bereits so weit fortge¬
schritten, daß sie es nicht mehr weit zu gewissen Schriften des Hochmittelalters hat.
Doch der Einfluß der irisch-angelsächsischen Schreibschulen ging noch viel weiter.
Denn während beispielsweise in Irland selbst die Schrift von äußeren Einflüssen un¬
berührt und daher im großen und ganzen jahrhundertelang unverändert blieb, war
ihr Einfluß im übrigen Europa im Wachsen begriffen. Schon sehr früh verpflanzten
die irischen Missionare ihre Schrift und ihren Schreibstil auf das europäische Festland,
und mit ihrer Mitwirkung wurden verschiedene westeuropäische Klöster wie Luxeuil
in Frankreich, St. Gallen in der Schweiz, Würzburg in Deutschland und Bobbio in
Italien zu bedeutenden Zentren der irischen Schreibkunst, deren Anteil an der wei¬
teren Entwicklung der europäischen Kalligraphie und der Lateinschrift überhaupt
damit außerordentlich zunahm. Doch nicht nur die irische Schrift, sondern auch ihre
angelsächsischen Varianten verbreiteten sich unmittelbar über den europäischen Kon¬
tinent, was allerdings wiederum auf die Tätigkeit angelsächsischer Missionare zurück¬
zuführen ist. Hauptzentrum dieses Schreibstils war Fulda, aber auch andere Klöster
des fränkischen Reiches bedienten sich bis ins 11. Jahrhundert der angelsächsischen
Schrift. Anderseits drang seit dem 10. Jahrhundert die zeitgenössische fränkische Mi¬
nuskel nach England vor, um die heimische Schrift dort nach und nach zu ersetzen
und nach dem Normanneneinfall von 1096 überhaupt auszuschalten.
Mit der Übersicht der Entwicklung und der Modifikationen der irisch-angelsäch-
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