DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
Unterschied ist in der Paläographie sicher bemerkenswert, und darum überrascht es
nicht, daß die Herkunft der charakteristischen Zeichnung der irischen Halbunziale
eine ganze Reihe von Erklärungen fand, z. B. den nicht genug überzeugenden Hin¬
weis auf den Einfluß der heimischen altkeltischen Schrift ogham. Der typisch nationale
Charakter, der diese irische Halbunziale kennzeichnet, tritt ungemein ausgeprägt im
schönsten Kodex dieser Kalligraphieschule in Erscheinung: in dem in der Bibliothek
des Trinity College in Dublin befindlichen berühmten Evangeliar aus der zweiten
Hälfte des 7. Jahrhunderts, das als Book of Keils bekannt ist (Tafel XLVI). Dieses mit
bewundernswerter Phantasie illuminierte Buch stellt zugleich ein Zeugnis der günsti¬
gen Bedingungen dar, die die irische Kalligraphie und Buchmalerei ungewöhnlich
schnell aufblühen ließen. Die Schrift dieser Handschrift zeigt eine wunderbare Voll¬
kommenheit und ist mit einer nicht allzu breit zugeschnittenen Feder geschrieben,
deren Kante in der Richtung der horizontalen Züge geführt und bei senkrechten und
runden Strichen ein wenig geneigt wurde. Die Schriftzeichnung charakterisiert eine
dekorative Tendenz, die sich überall geltend macht, wo dies nur irgend möglich ist.
Das kommt vor allem in der Verlängerung und Verbindung der horizontalen Züge
in der Linie der mittleren Höhe zum Ausdruck, die auf diese Weise oft auf einem
verhältnismäßig langen Stück der schmalen Textzeile unmittelbar in Erscheinung
tritt. Ein anderes typisches Merkmal ist der energische Duktus der senkrechten Schäfte
mit schweren dreieckigen, nach links gewandten Serifen an den Buchstabenköpfen,
während der Fuß des Schaftes gerade oder nur wenig verbreitert abgeschnitten wird.
Auch die einzelnen Buchstaben des Alphabets der voll entfalteten angelsächsischen
Halbunziale dieser und anderer Handschriften aus gleicher Zeit (Abb. 146) haben
eine charakteristische Zeichnung; so schon das a, das sich aus zwei eng aneinander
gerückten с zusammensetzt. Interessant ist auch die Minuskelzeichnung des b mit
geneigtem und gebogenem Schaft. Das d hat manchmal Unzial- und das e immer
Halbunzialform. Eine schöne Form zeigt das / mit untergezogenem Schaft, langem
Querstrich auf der Fußlinie und kurzem gebogenem Querstrich oben. Das g entwickelt
sich aus einem horizontalen Querstrich, aus dessen Mitte eine gekrümmte Linie nach
unten weist, um sich oft zu einem geschlossenen Bauch zu runden. Das n ist vorwiegend
durch seine Majuskelform vertreten, die jedoch durch die sehr niedrig ansetzende
ursprüngliche Diagonale abgewandelt wurde, denn die letztere erhebt sich links nur
kaum merklich über die Fußlinie. Doch auch die Minuskelform dieses Buchstabens
kommt nicht selten vor. In unveränderter Gestalt haben sich das r und das j ihre
Majuskelform erhalten. Das r ist jedoch sehr früh oft in seiner Minuskelform vertreten,
gewöhnlich mit langem und tief nach unten gebogenem zweitem Zug. Der Schaft
des t ist so stark gebogen, daß dieser Buchstabe mit seiner Form an ein с mit horizon¬
talem Kopfstrich erinnert. Am Anfang der Sätze kommen große, immer wenigstens
außen mit einer punktierten Umrißlinie geschmückte Buchstaben vor, die in die brei¬
ten Zeilenabstände hineinragen (Abb. 142). Das ist allerdings das einfachste Dekora¬
tionselement des Book of Keils und einer ganzen Reihe nicht minder schöner Schöp¬
fungen der irischen Buchkunst, aus der wir hier noch ein Beispiel aus dem Berliner
Psalter des 8. Jahrhunderts (Tafel XLVII) bringen. Am freiesten ließen die Schöpfer
dieser kostbaren Kodizes ihre Phantasie in den ganzseitigen Initialen spielen, deren
reiche Spiralen, Ranken und stilisierte animalische Motive nur schwer die Form des
abgebildeten Buchstabens erkennen lassen. Nirgendwo anders wurden die ornamentalen
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іф. Irisch-angelsächsische Halbunziale, y.-8. Jahrhundert.
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