KAPITEL II. DIE SOGENANNTEN NATIONALEN SCHRIFTEN
DIE AUF DEN ZUSAMMENBRUCH des römischen Reiches folgenden Wirren
zogen eine plötzliche und weitgehende Wandlung der politischen Karte Europas nach
sich, und es dauerte eine geraume Zeit, bevor sich die neue Situation wenigstens teil¬
weise konsolidierte. Die neuen Machthaber in den verschiedenen Landschaften des
ehemaligen römischen Reiches übernahmen inzwischen im Zusammenhang mit dem
Christentum unverhältnismäßig mehr aus der klassischen römischen Kultur, als sie
durch ihren eigenen Kulturbeitrag auszugleichen vermochten, und dieser war be¬
greiflicherweise sehr gering. Daraus ergab sich eine völlige Latinisierung der Eroberer
und eine fast vollständige Auslöschung der Volksunterschiede. Vielleicht erst am Aus¬
gang des 6. Jahrhunderts, als der direkte Einfluß des klassischen Roms zu schwinden
begann, bildete sich allmählich ein unterschiedlicher lokaler Charakter der einzelnen
Zentren der aufkommenden mittelalterlichen Kultur heraus. Auch das altrömische
Gepräge der Schriftdenkmäler schwand von Generation zu Generation kaum merk¬
lich dahin, und in den einzelnen nationalen Bereichen Westeuropas entstanden nach
und nach voneinander verschiedene Schriftformen, die in der Paläographie zusam¬
menfassend als nationale Schriften bezeichnet werden. Es war der Begründer der wissen¬
schaftlichen Paläographie, der gelehrte Benediktiner Jean Mabillon (i632-1707),
der diese Bezeichnung einführte, wobei er dem Irrtum erlag, daß diese Schriften von
den Völkerschaften hervorgebracht worden seien, die sich in den verschiedenen Ge¬
genden des einstigen weströmischen Reiches niedergelassen hatten. Die weitere Unter¬
suchung dieses Problems ergab jedoch mit unzweifelhafter Gewißheit, daß hier von
völkischen, nationalen Schriften nicht die Rede sein könne und daß es sich um bloße
lokale Modifikationen der altrömischen Schriften handelt. Dessenungeachtet hat der
Fachausdruck ‘nationale Schriften’ durch das Gesetz der Trägheit seine Geltung be¬
halten, aber nur in geographischem Sinn und für die Gruppe der lokal typischen
Schriften des Frühmittelalters; ihr werden solche zugeordnet, die etwa vom 7. bis zum
12. Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Italien, Frankreich, Spanien, Irland und
England in Gebrauch waren. Diese allgemein akzeptierte Einteilung ist zwar somit
nicht ganz genau, aber sie drückt dennoch gewisse territoriale Unterschiede mancher
lokaler lateinischer Schriften des frühen Mittelalters aus. Doch diese Schriften haben
keinen einheitlichen Charakter, und daraus ergibt sich, daß sie nicht aus einem ein¬
zigen römischen Vorbild entstanden sind. Während die ältesten irisch-angelsächsischen
Schriften zweifellos eng mit der römischen Halbunziale verwandt sind, stehen die
übrigen drei ‘nationalen’ Schriften der jüngeren römischen Kursiv näher. Diese ist
jedoch selbst, wie wir wissen, nur eine kursive Parallele gemischter formaler römischer
Schriften vom Typus der Halbunziale. Nichtsdestoweniger wird allgemein angenom¬
men, daß die jüngere römische Kursiv die einzige Quelle der Schriftentwicklung auf
dem europäischen Kontinent darstellt.
Die Gruppe der ‘nationalen’ Schriften gliedert sich somit in zwei Untergruppen,
von denen die direkten kontinentalen Modifikationen der jüngeren römischen Kursiv
in den paläographischen Handbüchern gewöhnlich an erster Stelle behandelt werden.
Für unsere Zwecke und der besseren Orientierung wegen wird es jedoch vorteilhafter
sein, vom gewohnten Weg abzuweichen und unmittelbar an die eben dargelegte Ent-
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IRISCH-ANGELSÄCHSISCHE HALBUNZIALE
wicklung der römischen Halbunziale im frühen Mittelalter anzuknüpfen, indem wir
uns der Entfaltung ihrer Modifikationen in der irischen und angelsächsischen Kalli¬
graphie dieser Zeit widmen. Eine solche Arbeitsweise wird sodann umso mehr durch
die unzweifelhafte Tatsache des außerordentlich starken Einflusses der irisch-angel¬
sächsischen Kalligraphie auf die Entwicklung der kontinentalen Buchschreibkunst
gerechtfertigt, wovon wir uns später gelegentlich überzeugen werden.
Die britischen Inseln waren allzu weit entfernt von der direkten Einwirkung der
altrömischen Kultur, um wie auf dem europäischen Festland deren Kontinuität zum
Ausdruck kommen zu lassen. Nach Irland waren die Römer übrigens nie vorgedrun¬
gen, weshalb hier erst mit der Christianisierung die Grundlagen einer eigenen Lite¬
ratur und der Entwicklung nationaler Kalligraphieschulen entstanden. Der erste Schritt
in dieser Richtung fand in dem von den keltischen Schotten besiedelten Irland irgend¬
wann im 5. Jahrhundert statt, als Missionare aus Süd- und Westfrankreich eintrafen
und handgeschriebene Kirchenbücher mitbrachten, die wahrscheinlich nur teilweise
mit der Unziale und größtenteils mit der Halbunziale ausgeführt waren. Aus dieser
römischen Halbunziale entwickelte sich dann unmittelbar die erste irisch-angelsächsi¬
sche Buchschrift, die IRISCH-ANGELSÄCHSISCHE HALBUNZIALE, die manch¬
mal auch als insulare Halbunziale oder als scriptura Scettica oder Saxonica bezeichnet wird.
Der alten, vermutlich ursprünglichen Bezeichnung scriptura tunsa, die durch Quellen
aus dem 10. Jahrhundert belegt ist, begegnen wir heute nur noch selten. Obwohl es
sich hier unzweifelhaft um einen einzigen Schrifttypus handelt, dessen Herkunft keines¬
wegs schwer zu bestimmen ist, wird seine Entwicklung aus historischen Gründen ge¬
wöhnlich in die irische und die angelsächsische getrennt dargelegt. Der Zusammen¬
hang mit den übrigen sogenannten nationalen Schriften, die aus der jüngeren römischen
Kursiv hervorgegangen sind, ist hier sodann im ausgeprägten Territorialcharakter ge¬
geben, der für die irisch-angelsächsische Halbunziale in der Tat außerordentlich be¬
zeichnend ist.
Die isolierte Lage der Insel Irland außerhalb des politischen Geschehens des übrigen
zeitgenössischen Europas trug nicht wenig zur ruhigen, von auswärts unbeeinflußten
Entwicklung des irischen Buchschaffens bei. Da sie nun einmal ihr Vorbild in Gestalt
der römischen Halbunziale erhalten hatten, gestalteten die mönchischen Schreiber
Irlands sie verhältnismäßig schnell zu einer vollendeten Form, die sie mit überra¬
schender Uniformität des Duktus von Generation zu Generation weiterpflegten. Sie
ließen sich weder durch die englische Invasion der Insel noch durch andere äußere
Umstände und Einflüsse aus der Ruhe bringen und schufen in der Zurückgezogenheit
ihrer Klöster prachtvolle Handschriften, vor allem liturgischer Bücher, die zu den
kostbarsten Schätzen der europäischen Buchkunst überhaupt gehören. Die Schrift der
frühen Handschriften dieser irischen kalligraphischen Schule war eine mit der Schrift
der italienischen Handschriften des 5.-6. Jahrhunderts so nah verwandte Halbunziale,
daß der Beginn einer Entwicklung der irischen Halbunziale schon deswegen dem
6. Jahrhundert zugeordnet wird. Doch schon in der ältesten erhaltenen Handschrift,
dem Dubliner Italafragment etwa aus der Mitte des 7. Jahrhunderts, finden sich ge¬
wisse Anzeichen einer eigenartigen irischen Kalligraphie. Und sehr früh, schon in den
irischen Handschriften aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, stehen wir plötzlich
vor einer völlig neuen, von der römischen Halbunziale und allen übrigen zeitgenös¬
sischen Schriften graphisch vollkommen verschiedenen Schrift. Ein so ausgeprägter
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