DIE ALTRÖMISCHEN SCHRIFTEN IM MITTELALTER
sene Schäfte keine seltene Ausnahme sind. Die bewundernswerte formale Vollkom¬
menheit konnte die Halbunziale jedoch nicht davor bewahren, daß sie durch eine neu
entstehende Buchminuskel verdrängt wurde, die wir hier später behandeln werden.
Bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts hört die Halbunziale als Buchschrift auf dem euro¬
päischen Festland völlig zu existieren auf, um als Urkundenschrift nur noch kurze
Zeit in Gebrauch zu bleiben. Inzwischen gab sie jedoch Anstoß zu einer außerordent¬
lich interessanten Entwicklung der irischen und angelsächsischen Schrift der Gruppe
der sogenannten nationalen Schriften.
Neben den universalen formalen Buchschriften des frühen Mittelalters, der Kapi¬
tale, Unziale und Halbunziale, machte sich in den Buchhandschriften bald auch die
jüngere römische Kursiv geltend, allerdings in einer sorgfältiger geschriebenen Form
als wir sie bei ihren geläufigen urkundlichen Modifikationen vorfinden. Sie stellt ein
weiteres Beispiel der zu dieser Zeit allerdings bereits ausnahmsweisen Verwendung
einer kursiven Schrift in literarischen Handschriften dar, was bei den Kursivschriften
lange zuvor oft der Fall war und auch später wieder sein sollte. Im Grunde ist das
nichts Nachteiliges, weil auch auf diese Weise graphisch hervorragende Handschriften
entstehen konnten. Mit der ihrer Schreibausführung gewidmeten größeren Sorgfalt
büßt die Urkundenkursiv ihren Kursivcharakter mehr oder weniger ein und stellt
somit keine Kursiv im eigentlichen Sinne mehr dar, sondern eine Art Übergangsform,
die als Buch-Halbkursiv oder halbkursive Minuskel bezeichnet wird. In der bekanntesten
Handschrift dieser Gattung aus dem 6. Jahrhundert, den wahrscheinlich in Südfrank¬
reich entstandenen Homilien des hl. Avitus in der Pariser Bibliothèque Nationale
(Tafel XLV), ist diese Umwandlung der Kursiv in die Buch-Halbkursiv noch nicht
allzu stark ausgeprägt und besteht eigentlich nur darin, daß die Ligaturen mit mehr
Zurückhaltung verwendet werden und die kursive Schräghaltung aufgerichtet ist. Im
Übrigen kann die Schrift dieser Handschrift andererseits als besonders anschauliches
Beispiel der jüngeren römischen Kursiv mit isolierten Grundformen fast aller Buch¬
staben des Alphabets gelten. Eine wirkliche Buchschrift ist hingegen schon die halb¬
kursive Minuskel der Homilien des hl. Maximus, Bischofs von Turin, die irgendwann
im 7. Jahrhundert mit einer verhältnismäßig breiten Breitfeder geschrieben wurden
(Abb. 145). Das so zugeschnittene Schreibinstrument hat die Zeichnung der leicht
kursiv nach rechts geneigten und mit großer Sorgfalt modellierten Einzelbuchstaben
beeinflußt, und die Zeichnung büßt auch in den übrigens nur wenig zahlreichen Liga¬
turen kaum etwas von ihrer Konstruktion ein. Im Alphabet dieser halbkursiven Mi¬
nuskel (Abb. 144) sei außer auf die stabilisierte Form einzelner Buchstaben vor allem
auf die keulenförmigen Oberlängen und auch auf die nach der schrägen Schattenachse
verstärkten geraden Züge hingewiesen. Die so beschaffene halbkursive Minuskel soll
zum Ausgangspunkt der Entwicklung einer ganzen Reihe frühmittelalterlicher Buch¬
minuskelschriften geworden sein, weshalb ihre Bedeutung schon bei dieser Gelegen¬
heit gebührend unterstrichen sei.
Die ununterbrochen verwendeten altrömischen Schriften Kapitale, Unziale und
Halbunziale, die jüngere römische Kursiv und die eben erwähnte halbkursive Mi¬
nuskel, wenn wir von der römischen Monumentalschrift absehen wollen, stellten im
Frühmittelalter Universalschriften dar, deren Allgemeingeltung sich nicht nur auf den
ganzen westeuropäischen Machtbereich des einstigen römischen Imperiums erstreckte,
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HALBKURS IVE MINUSKEL
sondern überall anerkannt war, wo mit dem Christentum des lateinischen Ritus auch
die lateinische Sprache und Schrift als unmittelbares Erbe der erloschenen römischen
Kultur Fuß gefaßt hatte. Doch sie waren nicht die einzigen lateinischen Schriften des
frühen Mittelalters, denn die Entwicklung der Lateinschrift konnte nicht bei Formen
stehenbleiben, die in einigen Fällen früher und in anderen später den andersgearteten
Bedürfnissen und der unterschiedlichen kulturellen Orientierung der verschiedenen
Machtbereiche des politisch zerstückelten europäischen Kontinents widersprachen.
Damit hängt die Entstehung weiterer Modifikationen der überkommenen römischen
Schriften zusammen, die sich dann in den verschiedenen Gebieten weitgehend selb¬
ständig entwickelten. Der Übersicht dieser Modifikationen widmen wir nach dem
Vorbild der traditionellen paläographischen Klassifizierung ein besonderes Kapitel,
denn sie stellen eine zumindest graphisch andersgeartete und für das Frühmittelalter
typische Gruppe dar, die uns den Überblick über die Lateinschriften dieser Epoche
beträchtlich erschweren würde, wenn wir mit ihrer Entwicklung unmittelbar - was
allerdings vielleicht richtiger wäre - an die uns bereits bekannten altrömischen Proto¬
typen anknüpfen wollten.
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