DIE ALTRÖMISCHEN SCHRIFTEN IM MITTELALTER
Unziale zustande (Abb. 141). Interessant ist, daß auch in diesem Fall alle Aufmerk¬
samkeit der Form der Serifen galt und daß das Ergebnis schließlich wieder ihre Spal¬
tung nach dem Rezept des Filocalus war. Wenn sie auch dies bezüglich nichts Neues
bedeutete, entbehrte diese Schrift doch nicht eines gewissen und manchmal beachtli¬
chen Reizes. Daher wandten sich der ornamentalen Unziale der mittelalterlichen
Initialen als Inspirationsquelle auch die bildenden Künstler in der romantischen Pe¬
riode des 19. Jahrhunderts zu, wenn sie schriftkünstlerische Aufgaben zu lösen hatten.
Die Spaltung der Serifen - wohl das am häufigsten angewandte Mittel einer Orna-
mentierung der Unziale - wurde manchmal noch durch andere dekorative Elemente
ergänzt oder ersetzt, und solcher Möglichkeiten gab es eine unerschöpfliche Vielzahl.
In dieser Hinsicht außerordentlich erfinderisch waren insbesondere die Schöpfer der
Prachtkodizes der irisch-angelsächsischen Schriftschulen. In ihren Handschriften aus
dem 7.-8. Jahrhundert kommt gewöhnlich sehr schön eine ornamentale Unziale zur
Geltung, in der selbst die Konstruktion ornamental ausgeführt ist (Abb. 142). Beson¬
ders charakteristisch für diese irisch-angelsächsische ornamentale Unziale der Pracht¬
kodizes dieser Zeit ist die punktierte Umrißlinie, die beiderseits die Züge der Schrift¬
zeichnung begleitet.
Zur Beschriftung der weniger luxuriös ausgestatteten Handschriften diente im frü¬
hen Mittelalter als weitere Universalschrift dieser Zeit die römische Halbunziale, deren
Schriftzeichnung sich eigentlich erst ganz am Ende des Altertums zeichnerisch stabili¬
sierte. Sie ist im Prinzip bereits eine Schrift von Minuskeltypus und erleichterte daher
auf Grund ihres Duktus beträchtlich die verhältnismäßig schnelle Niederschrift des
Textes bei gleichzeitiger optimaler Lesbarkeit. Das Schreiben im Vierliniensystem der
Minuskel entspringt also keineswegs einer formalistischen Spielerei der Schreiber am
Ausgang des Altertums, die auf diese Weise etwa versucht hätten, ihren Vorrat an
Schriftformen bunter zu gestalten, sondern ihrem Bestreben, das Schreiben wie das
Lesen zu erleichtern. Wie die Kapitale litt auch die Unziale ständig, vor allem bei
geringeren Schriftgrößen, an einem fühlbaren Mangel in Gestalt der nicht genug aus¬
geprägt differenzierten Einzelbuchstaben in gleichmäßig ausgerichteten Textzeilen.
Die verlängerten Züge der Halbunziale wiederum trugen mit der unruhigen Ober¬
fläche der Zeile zum leichteren Lesen der dicht beschriebenen Buchseiten bei, wo es
sich um Handschriften von weniger festlichem Charakter handelte, als es die in der
Regel mit der großformatigen Unziale geschriebenen liturgischen Kodizes waren. Auf
solchen sparsamer geschriebenen Textseiten führten die Ober- und Unterlängen zur
Einhaltung genügender Zeilenabstände, die dem Auge beim Lesen die Richtung
wiesen. Diese größtenteils praktischen Werte der Halbunziale verhinderten jedoch
keineswegs, daß sie mit der Schönheit ihrer Zeichnung durchaus den feierlichen Schrif¬
ten der Prachtkodizes gleichkam, und die schönen Ergebnisse dieser Bestrebungen
machten sich früher oder später in verschiedenen Klosterskriptorien geltend. Denn
dort gedieh diese Schrift zu einer noch höheren Stufe kalligraphischer Vollkommen¬
heit, wie merkwürdigerweise nicht allzu zahlreich erhaltene Kodizes aus dem italie¬
nischen Monte Cassino, dem französischen Tours oder aus irischen und englischen
Klöstern beweisen, wo sie zum Ausgangspunkt einer großartigen Entfaltung heimi¬
scher Formen wurde. Auf dem europäischen Festland erlebte die Halbunziale ihre
höchste Blüte unter Karl dem Großen am Ausgang des 8. Jahrhunderts in der be-
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143. Karolingische Halbunziale, 8.-д. Jahrhundert
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