EINFÜHRUNG
Gebiet gibt, die in ihrer wissenschaftlich-methodischen Arbeit hervorragende Ergeb¬
nisse erzielt haben. Die Zersplitterung des Schriftstudiums in so viele wissenschaftliche
Fächer, deren eben angeführte Aufzählung keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit
erhebt, und der damit zusammenhängende Mangel an einheitlichen Gesichtspunkten
bringt zahlreiche schwer zu überwindende Schwierigkeiten mit sich. Diese haben
einige Forscher in neuerer Zeit bewogen, eine Vereinheitlichung der verschiedenen
Schriftwissenschaften zu einer spezialisierten Disziplin vorzuschlagen, die das Schrift¬
studium aus allen Gesichtspunkten in möglichst umfassender Synthese koordinieren
würde. Es wurden auch bereits entsprechende Methoden ausgearbeitet und ein sehr
genaues Programm dieser Forschungen entworfen (Cohen). Diese Bestrebungen stoßen
jedoch auf ein anderes Hindernis, nämlich die Frage, wie sich eine solche Wissenschaft
nennen sollte. Der zutreffendste Name wäre Graphologie, aber leider kommt er über¬
haupt nicht in Betracht, da er inzwischen für andere Zwecke mißbraucht wurde. Von
den übrigen vorgeschlagenen Bezeichnungen scheint Grammatologie die annehmbarste
zu sein, ein Fachausdruck, den I. J. Gelb vorschlägt. Es wäre in der Tat wünschens¬
wert, wenn die Bestrebungen um das Zustandekommen einer wirklichen und selbstän¬
digen Schriftwissenschaft entsprechenden Widerhall fänden, denn die großen Möglich¬
keiten einer solchen Disziplin stehen außer Zweifel.
Dieser flüchtige Überblick der wissenschaftlichen Fächer, aus denen wir beider
Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung unserer Schrift schöpfen müssen, läßt
erkennen, daß unser Studium nicht leicht sein wird. Dabei sind hier jene Wissen¬
schaften gar nicht genannt, die wir ständig im Auge behalten müssen, zum Beispiel
die allgemeine politische, Sozial- und Kulturgeschichte und natürlich auch die Ge¬
schichte der Kunst. Es ist somit nicht gerade wenig, was wir in dieser Richtung zu tun
haben, auch wenn wir das eigentliche Ziel unseres Studiums auf die direkte Entwick¬
lungslinie der Lateinschrift beschränken. Doch wenn wir überhaupt über die Schrift
reden wollen, müssen wir zunächst die wichtigste Frage beantworten: was ist sie
eigen thch?
Im weitesten Sinne ist die Schrift ein Mittel zur Verständigung der Menschen unter¬
einander, ein Mittel, dessen Wirkung - anders als beim primären Hauptverständi¬
gungsmittel, der Sprache - weder räumlich noch zeitlich begrenzt ist. So weit gefaßt,
bedeutet die Schrift ein Mittel zur Mitteilung oder Festhaltung irgendeines Gedankens
oder Sinneseindrucks. Demzufolge wäre jedoch auch die moderne Schallplatten- oder
Tonbandaufnahme jedes Gedankens, der durch die Sprache oder ein anderes Aus¬
drucksmittel derselben Sinnessphäre mitgeteilt werden kann, gleichbedeutend mit
Schrift. Im engeren Sinne könnte man die Schrift also als mehr oder weniger dauer¬
hafte Transposition eines Sinneseindrucks oder Gedankens, der mit den Ausdrucks¬
mitteln eines Sinnesbereichs mitteilbar ist, in den Aperzeptionsbereich eines anderen
Sinnes definieren. Meist handelt es sich um das visuelle, stumme Festhalten eines
Gehörseindrucks öder eines durch den Klang auszudrückenden, somit auch musika¬
lischen Gedankens. Doch ein solcher Eindruck oder Gedanke kann auch dauerhaft
in den Bereich des Tastgefühls übertragen werden, wie dies bei der Blindenschrift
der Fall ist. Technisch genommen könnte man die Schrift sodann als absichtsvoll fi¬
xierte, irgendeine Bedeutung enthaltende und lesbare Zeichen definieren. Vergegen¬
wärtigen wir uns dabei eine bedeutsame Eigenschaft der Schrift, ihre Dauerhaftigkeit,
deren Wirkung nach Bedarf durch die Wahl eines geeigneten Materials und einer
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ebensolchen Aufzeichnungstechnik verlängert werden kann. Die Schrift wird so zum
Mittel einer theoretisch weder räumlich noch zeitlich begrenzten Mitteilung, man
kann mit ihr jeden Gedanken einem jeden mitteilen, der sie aus der Nähe oder Ferne,
in der Gegenwart oder in entfernter Zukunft lesen kann. Da man aber jeden Gedanken
mit Worten ausdrücken oder umschreiben kann, wird die mögliche Definition der
Schrift noch kürzer: sie ist eine visuelle Aufzeichnung der Sprache. Weil man mit
Hilfe des Gesichtssinns jedoch auch andere Mitteilungen - beispielsweise mittels Ma¬
rinewimpeln — lesen kann, wollen wir den Begriff der Schrift im allerengsten Sinne
durch eine Definition festlegen, der zufolge sie die graphische Aufzeichnung der Sprache
ist. Mit einer so eng gefaßten Definition, der wir in mehr oder weniger ähnlichen
Formulierungen bei verschiedenen Autoren (Cohen, Février, Loukotka u. a.) begeg¬
nen, können jedoch nur noch die höchststehenden Schriftsysteme gemeint sein, weshalb
W. Istrin nunmehr neuerlich die Forderung einer breiteren Definition ausgesprochen
hat, die prinzipiell etwa so lauten würde, wie wir sie eingangs formuliert hatten. Für
uns steht allerdings der graphische Aspekt der Schrift und ihre künstlerische Schönheit
im Vordergrund des Interesses.
Durch ihre künstlerische Schönheit zeichnen sich jedoch sehr viele Formen aus,
weit mehr als man gewöhnlich durch die trübe Brille der Unkenntnis oder fest ver¬
wurzelter Vorurteile sehen kann. Um uns davon zu überzeugen, müssen wir viele
Schriftformen kennenlernen. Doch sei unsere Überschau noch so umfassend, sie kann
nie und nimmer erschöpfend sein. Die Vielzahl der Schriftformen ist so unermeßlich,
daß sie gar nicht durch Zahlen ausgedrückt werden kann. Diese formale Vielfalt der
Schriften aller Entwicklungsphasen und Kulturbereiche kann auf verschiedene innere
und äußere Faktoren, die die Herausbildung der Schriftzeichnung beeinflußt haben,.
zurückgeführt werden. Von den inneren Faktoren war es immer und vor allem die
Kulturstufe einer menschlichen Gemeinschaft. Sie kommt in der Schrift meist sehr
deutlich zum Ausdruck. Bei primitiven Kulturen war auch die Form der Schrift pri¬
mitiv, und in den eigentlichen Anfängen der menschlichen Entwicklung kann man
die verschiedenen Formen ‘schriftlicher’ Mitteilung oder Fixierung, die man fest¬
gestellt hat, überhaupt noch nicht als Schrift werten. Derartige embryonale Formen
einer schriftlichen Äußerung des frühen Menschen oder primitiver Völkerschaften gibt
es eine ganze Reihe, und die moderne Wissenschaft beurteilt und klassifiziert sie nach
zwei grundlegenden Merkmalen: vor allem danach, ob sie irgendwelche Spuren einer
beabsichtigten graphischen Einwirkung auf einem festen, zu diesem Zweck ausge¬
wählten Untergrund hinterlassen, und zweitens danach, inwieweit sie ihren Zweck
einer Mitteilung oder eines Vermerks erfüllen. Entsprechen solche Dokumente nur
einer dieser Forderungen, dann sind die als Vorstufen der Schrift (Jensen) oder als
autonome Schriften (Février) zu werten.
Fehlt das erste der genannten Kennzeichen und ist der Zweck der Mitteilung oder
des Vermerks genügend klar ausgedrückt, dann wird eine solche Vorstufe der Schrift
als Gegenstandsschrift (Jensen) bezeichnet. In diese Gruppe werden also verschiedene
Mittel zur Auffrischung des Gedächtnisses — Mnemogramme - eingeordnet, und weiter
solche, mit denen eine knappe Information oder ein Wink ausgedrückt wird, wie z. B.
an einer bestimmten Stelle und mit einer bestimmten Absicht angehäufte Steine,
steinerne Grabhügel, Grab- und andere Denkmäler, Stäbchen mit eingeritzten Kerben -
sog. Kerbenschrift -, Knotenschnüre — sog. Knotenschrift -, Jagdpfeile, die als Weg-
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