142. Irisch-angelsächsische Ornamentalmajuskel, y.-8. Jahrhundert.
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MITTELALTERLICHE UNZIALE
und Neuen Testaments auf über tausend Pergamentblättern. Am reichsten ausge¬
stattet wurden jedoch die Handschriften einiger liturgischer Bücher, die mit Gold und
Silber auf himmelblauem oder purpurfarbenem Pergament geschrieben und in iri¬
schen, schottischen und französischen Klosterskriptorien im Laufe des 7. Jahrhunderts
entstanden sind. In diesen Kodizes ist die Unziale bereits mehr gemalt als auf kom¬
binierte Weise geschrieben, mehr Ornament als Schrift.
Ein schönes Beispiel der kalligraphischen Unziale dieser Zeit stellt auch das in der
Bibliothek des Domkapitels zu St. Veit in Prag verwahrte Fragment des St.-Markus-
Evangeliums etwa aus dem 6. Jahrhundert dar (Tafel XLII). Auf den ersten Blick
macht diese Schrift einen völlig unschreibgerechten Eindruck wie das Alphabet aus
der obenerwähnten Analyse. Sie enthält gewisse Abweichungen der Zeichnung ein¬
zelner Buchstaben, die vielleicht wirklich schreibgerecht geschrieben werden konn¬
ten, aber auch andere Buchstaben, bei denen das nicht möglich war. Dasselbe gilt
von einem anderen Denkmal böhmischer Provenienz, der Unziale des in der gleichen
Bibliothek befindlichen Evangeliars aus dem 9. Jahrhundert, dessen Schrift, einige
geringfügige Abweichungen ausgenommen, fast dieselbe Zeichnung aufweist. Damit
ist die Tatsache einer ununterbrochenen Tradition in der jahrhundertelangen Ver¬
wendung dieser Unziale auf glänzende Weise bestätigt. Obwohl diese Unziale mit
vertikaler Schattenachse besonders typisch für das frühe Mittelalter ist, geriet in dieser
Zeit auch die Variante mit schräger Schattenachse nicht in Vergessenheit und kam
in den weniger anspruchsvollen Handschriften zur Anwendung. Ihr Duktus ließ aller¬
dings keinerlei Veränderung der Zeichnung zu, die, wie wir wissen, schon im 4. Jahr¬
hundert stabilisiert war. Darum traten auch keine besonders typischen mittelalter¬
lichen Modifikationen dieser Schrift auf, und wo sie - wenn auch selten - vorkam,
behielt sie ihre alte Form, die wir hier bereits kennengelernt haben. Im 9. Jahrhundert
trat die Unziale als Textschrift allmählich in den Hintergrund, aber in den Über¬
schriften blieb sie bis zum Ausgang des Mittelalters und in gewissen Schriften des goti¬
schen Typus bis weit in die Neuzeit hinein als großes Alphabet oder Initialschrift in
Gebrauch. In dieser Form wurde sie zum Ausgangspunkt verschiedener ornamentaler
Modifikationen, aber am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Edward Johnston
und weitere Anhänger der sogenannten Schriftrenaissance auch die Schönheit der
Buchunziale in ihrer ungeschmückten Form. Sie propagierten sie als einziges Vorbild
einer vollendeten handschriftlichen Schrift und brachten auch anschauliche Anwei¬
sungen für ihre moderne Anwendung. Obwohl ihnen jene Anerkennung, die man als
allgemein bezeichnen könnte, versagt blieb, sind die Schüler dieser Apostel auch heute
noch vergeblich bemüht, diese spezifische Form eines frühmittelalterlichen Inhalts in
der heutigen, vom mittelalterlichen Geist so weit entfernten Zeit zu akklimatisieren.
Sogar im Buchdruck tauchten einige solche mehr oder weniger modernisierte Unzial-
versionen auf, manchmal nicht ohne die positiven Merkmale individueller Lösun¬
gen, aber brauchbar sind sie nur in jenen seltenen Fällen, wo das Altertümliche des
Textes sich mit einem solchen Historismus des schriftkünstlerischen Ausdrucks verträgt.
In den Initialen der frühmittelalterlichen Pergamentkodizes widmete man der Un¬
ziale begreiflicherweise eine außergewöhnliche Sorgfalt, um ihr die schönste Form
zu verleihen. Doch in diesem Anwendungsbereich erfüllte die Unziale in ihrer Buch¬
form oft nicht ganz die dekorativen Absichten der Schreiber und Illuminatoren, die
sie deshalb ihren Vorstellungen anpaßten, und so kam auch eine ornamentale Form der
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