DIE ALTRÖMISCHEN SCHRIFTEN IM MITTELALTER
und weit länger als Hauptschrift für die Texte der Luxuskodizes diente. Gewöhnlich
erhielten diese mittelalterlichen Modifikationen der römischen Unziale ein großformatiges
Schriftbild und jene kalligraphische Gestaltung, die wir hier bereits als Unzialform
mit vertikaler Schattenachse kennengelernt haben. In den Prachthandschriften des
Frühmittelalters hatte die Unziale jedoch keine reine Schreibform. Zahlreiche Buch¬
staben ihres Alphabets (Abb. 140) konnten nicht mehr auf einfache Weise geschrieben
werden, sondern man mußte sie auf komplizierte Art zeichnen, ähnlich wie dies beim
‘Schreiben’ der quadratischen Kapitale der Fall gewesen war. Im Interesse einer un¬
unterbrochenen Schreibweise konnte beispielsweise kein so starker Strichstärkewechsel
mehr auftreten. Denn die sehr fetten senkrechten Schäfte hätten eine sehr breit zu¬
geschnittene Feder erfordert, mit der man wiederum schwerlich die feinen horizon¬
talen Haarstriche gezogen hätte und auf keinen Fall gewisse ebenso feine Schräg-
und Vertikalzüge. Das Alphabet dieser Unziale läßt gleichfalls erkennen, daß die
Einheit der Schattenachse hier nicht immer konsequent eingehalten wurde, obwohl
es auf den ersten Blick den Anschein hat, daß die Breitfeder meist tatsächlich parallel
zur Zeilenhorizontale gehalten wurde. Daraus würde aber folgen, daß nicht nur die
Strichstärke bei den Rundbuchstaben nach der Vertikalachse ausgerichtet wäre, son¬
dern auch alle senkrechten Schäfte die stärksten Schatten aufwiesen. Das trifft jedoch
beim Buchstaben N keineswegs zu, und auch die schrägen Haarstriche beim A, D, X
und Y wären ohne eine stärkere Drehung der Federkante nicht möglich gewesen. Als
ganz und gar nicht schreibmäßig muß sodann die Form der Serifen des С, E, F, G,
L, S, T und Z gelten, woraus geschlossen werden kann, daß eine solche Unziale nicht
geschrieben, sondern gezeichnet wurde. Nach H. Delitsch geschah dies mit einer
schmäleren Feder in zwei Phasen, indem zunächst der Umriß des Schriftbildes ab-
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gesteckt und sodann die Umrißlinien der fetten Züge ausgefüllt wurden. Sicher war
dies eine äußerst mühsame und völlig unreine Schreibtechnik, deren Ergebnisse wir
dennoch nicht als abwegig bezeichnen und verwerfen können. Es handelt sich ohne
Zweifel um eine sehr schöne Schrift, auch wenn sie der echten Schreibtechnik nicht
absolut entspricht. Anderseits entspricht sie in den mit größter Pracht ausgestatteten
liturgischen Kodizes völlig ihrer Bestimmung, ebenso wie den Lebensbedingungen und
Gefühlen ihrer Schöpfer. Bei der Betrachtung der Seite einer solchen Handschrift
wird man unmittelbar angesprochen von der Ergriffenheit und beseligten inneren
Ruhe des schreibenden Mönches, der unbeschwert vom Zeitmangel und von weltlichen
Sorgen die schön geschwungenen Linien der großdimensionierten Buchstaben zog,
um sie in lockeren Abständen den weit auseinanderliegenden Zeilen des Pergament¬
folios einzuordnen. Es ist dies eine durchwegs ihrer Zeit und deren Lebensanschauung
und Stil eigene Schrift, die dem letzteren ebenso entsprach wie dem Inhalt der Texte,
für die sie bestimmt war. Sie ist auch die Schrift der schönsten Flandschriften aus der
Periode der Hochblüte des frühen Mittelalters. Alles war hier der graphischen Wir¬
kung untergeordnet, die darüber hinaus seit dem 7. Jahrhundert durch die Domi¬
nanten noch größerer, in der Regel farbiger und dekorierter Buchstaben - der Ini¬
tialen - gesteigert wurde. Mit einer derartigen Prachtunziale geschriebene Kodizes
sind in großer Zahl erhalten; sie stammen aus sämtlichen westeuropäischen Zentren
der Schreibkunst und sind Gegenstand einer schrankenlosen Bewunderung seitens aller
Kenner ohne Unterschied. Des größten Ruhms dürfte sich der weitläufige Florentiner
Codex Amiatinus aus dem Jahre 700 erfreuen; er enthält den ganzen Text des Alten
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ijg. Romanische gemischte Majuskel, 11. Jahrhundert.
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