DIE ALTRÖMISCHEN SCHRIFTEN IM MITTELALTER
Schriften dieser Gattung werden und wurde es auch ganz bestimmt nicht. Diese jün¬
geren Schriften sind zwar auf dasselbe Bestreben der Schreiber zurückzuführen, die
die festlichen Monumentalinschriften nachahmten, aber als Vorbild mag ihnen wohl
kaum die Schrift der vereinzelt dastehenden und damals wahrscheinlich nicht mehr
bekannten oder unzugänglichen Vergilhandschriften gedient haben. Die quadratische
Kapitale des Frühmittelalters scheint somit unmittelbar von Vorbildern der Inschrif¬
tenkunst inspiriert gewesen zu sein, und es waren nicht immer die besten aus klassi¬
scher Zeit. Deshalb kommt sie in der Regel in den verschiedensten und in der Kon¬
struktion stark gemischten Modifikationen und fast ausschließlich als Schrift für die
Überschriften oder besonders bedeutsame Seiten der Luxushandschriften vor, in denen
die quadratische Kapitale bis ins n. Jahrhundert verwendet wird. Auf diesen Gel¬
tungsbereich beschränkt, unterlag sie in der weiteren Entwicklung allmählich neuen
Einflüssen einer gewandelten Stilauffassung, die in ihrer Zeichnung durch neue und
immer öfter auftretende Deformationen zum Ausdruck kam. Trotzdem begegnen wir
ihr manchmal auch sehr spät in bewundernswert reiner, wirklich klassischer Gestalt.
So z. B. im Prager Evangeliar des Domkapitels aus dem 9. Jahrhundert (Tafel XLI)
oder in der Bibel Karls des Kahlen, die im 9. Jahrhundert in der berühmten Kalli¬
graphieschule von Tours entstand. In beiden Handschriften ist diese Schrift mit einer
so schönen Form vertreten, daß ihr Alphabet (Abb. 136) zu den besten Beispielen der
römischen Monumentalschrift gezählt werden könnte, mit der sie unverhältnismäßig
näher verwandt ist als die quadratische Kapitale der antiken Vergilhandschriften.
Noch ziemlich rein, aber bereits ganz der Schreibtechnik entsprechend ist ein anderes
Alphabet der quadratischen Kapitale aus dem 9. Jahrhundert (Abb. 137), das wir
hier nach H. Delitsch wiedergeben. Von der engen Verwandtschaft mit dieser späten
Quadratkapitale können wir jedoch eine Majuskelschrift, der wir manchmal in den
besseren Handschriften begegnen, nicht ausschließen : ihre ornamentale Form, die manch¬
mal auch die Bezeichnung capitalis artificiosa trägt. Seit der Schrift des Filocalus in den
Damasusinschriften des 4. Jahrhunderts liegt mit ihr eine weitere ornamentale Va¬
riante der lateinischen Majuskel in der Entwicklung der Lateinschrift vor. Wie bei
der vorgenannten epigraphischen Schrift, kommt das Ornamentale der Schriftzeich¬
nung, deren Grundkonstruktion und Zusammensetzung im Wesentlichen erhalten
blieb, vor allem in den gespaltenen Serifen und ihrer bogenförmigen Rückwärtskrüm¬
mung ins Schriftbild zum Ausdruck. Ein schönes Beispiel solchen Schriftschaffens ist
das berühmte Psalterium Aureum, jetzt in Wien, das der westfränkische Schreiber
Dagulf in den Jahren 782-795 für Karl den Großen schrieb, aber dieses Beispiel steht
durchaus nicht vereinzelt da. Das Alphabet, das wir hier aus dieser Handschrift nach
H. Delitsch wiedergeben (Abb. 138), unterscheidet sich im Prinzip nur wenig von der
Schrift der Damasusinschriften, es sei denn durch die weniger einheitliche Propor¬
tionsordnung der einzelnen Buchstaben, den schwächer ausgeprägten Strichstärke¬
wechsel und vor allem vielleicht durch eine dekorativere Wirkung, auch bei solchen
Buchstaben, die bei Filocalus ungeschmückt blieben. Während die Schrift der Da¬
masusinschriften in der Zeichnung jedes einzelnen Buchstabens fest stabilisiert war,
ließen die mittelalterlichen Schreiber ihrer Phantasie freieren Lauf, weshalb viele
Buchstaben auch auf ein und derselben Seite der Handschrift in mehreren ornamen¬
talen Varianten Vorkommen können. In gleichem Geist wurde das erwähnte Prinzip
ornamentaler Behandlung in dieser Zeit bei dekorativ gestalteten Initialen auch später
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ROMANISCHE GEMISCHTE MAJUSKEL
oft angewandt, aber ein solches Schaffen gehört mehr in den Bereich der Buchillumi¬
nation und fällt außerhalb des Rahmens unseres Studiums.
Der quadratischen Kapitale der oben erwähnten Beispiele könnte man zahllose
weitere ihrer Anwendung als Schrift für Buchtitel und Kapitelüberschriften aus dem
ganzen Zeitraum des frühen Mittelalters und vor allem aus der romanischen Stil¬
periode beifügen. In vielen Fällen handelt es sich hier jedoch bereits um Schriften,
die in verschiedenem Grad formal gemischt sind und die man in keine der paläo-
graphischen Kategorien einreihen kann, ohne in Verlegenheit zu geraten. Das ist
vielleicht Grund genug, um sie zu einer besonderen Gruppe zusammenzufassen und
sie als romanische gemischte Majuskel zu bezeichnen (Abb. 139). Doch nicht immer ist
diese Schrift eine solche der Kapitelüberschriften und Titel, sondern manchmal auch
ganzer Seiten des Textes der Kodizes, wie z. B. des großformatigen, seiner malerischen
Ausgestaltung und seines historischen Wertes wegen außerordentlich bedeutsamen
böhmischen Krönungsevangeliars des Königs Wratislaus, einer 1085 entstandenen Lu¬
xushandschrift, die auch unter dem Namen Wissehrad-Kodex bekannt ist (Tafel XL).
Es handelt sich um ein Werk der Prager Schreiber- und Malerschule, aus deren Buch¬
schaffen noch drei graphisch und illuminatorisch ähnlich ausgeführte Handschriften
erhalten sind, das Evangelienbuch (Evangelistar) der Bibliothek des Prager Dom¬
kapitels und zwei Handschriften in polnischen Sammlungen, der Goldene Kodex von
Pultus im Krakauer Czartoryski-Museum und das Gnesener Evangelienbuch, das
auch unter der Bezeichnung Missale des hl. Adalbert bekannt ist und in der Bibliothek
des Gnesener Domkapitels verwahrt wird. Die Schrift dieser Handschriften ist zwei¬
fellos eine Majuskel aus dem Verwandtschaftskreis der quadratischen Kapitale, die
jedoch durch die zeitbedingten Deformationen so verändert wurde, daß recht wenig
von den Familienmerkmalen übrig blieb. Wir finden kaum noch etwas von ihrer
Proportionsordnung vor, weder in der Zeichnung einzelner Buchstaben, noch in deren
gegenseitiger Beziehung. Grundschema der Schriftkonstruktion ist hier nicht mehr
z. B. das Quadrat, weshalb auch das rhythmische Prinzip der breiten und schmalen
Buchstaben fortfällt. Der Scheitel des A endet nicht nur nicht mit einem bloßen stump¬
fen Winkel, sondern die Schrägbalken treffen zuweilen nicht einmal zusammen, so daß
die meist einseitige, weit nach links verlängerte Serife hier zugleich die Rolle einer
Verbindungslinie beider Züge spielt. Beim M berühren einander die inneren Striche
nicht auf der Fußlinie, sondern oft bereits über der halben Schrifthöhe. Das О bildet
ein schmales Oval, andere Striche sind oft gekrümmt u. ä. m. Besonders wichtig ist
jedoch die Tatsache, daß gewisse Buchstaben hier in der Unzialform vertreten sind,
wie das E und Q. Wir können diese Schrift somit weder als formal rein noch als
sonderlich formschön bezeichnen. Man könnte daran noch eine ganze Reihe graphi¬
scher Mängel und Abweichungen von den strengen Regeln aussetzen, aber all das
täte der auserlesenen, künstlerisch anziehenden Schönheit dieser einzigartigen Hand¬
schriften nicht den geringsten Abbruch. Sie bleiben ein schönes Beispiel der Ver¬
schmelzung der malerischen, ornamentalen und graphischen Komponenten zu einem
Ganzen von vollendeter Stileinheit.
Eine weitere Universalschrift des frühen Mittelalters war natürlich die römische Un-
ziale, die im Gegensatz zur klassischen und quadratischen Kapitale in der Regel
keineswegs nur der Aufzeichnung der Buchtitel und Überschriften, sondern vor allem
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