jj8. Quadratkapitale, Ornamentalform des 8. Jahrhunderts.
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MITTELALTERLICHE CAPITALIS QUADRATA
Buchstaben in unverändert klassischer Form vor, z. B. das G, E, F, G, O, Q, S, T und
X, aber viele andere treten mehr oder weniger verändert auf. Schon das A hat eine
ganz andere Zeichnung ; es ist mit einem Querstrich und vor allem mit einer selbstän¬
digen horizontalen Serife am Scheitel versehen. Das В ist mit einem veränderten
Duktus geschrieben. Mit dem ersten Strich wurde offenbar die obere horizontale Se¬
rife, mit dem zweiten sodann der Schaft und die untere Serife mit dem unteren Teil
des Bauches geschrieben. Der dritte Zug setzte unter der oberen Serife des Schaftes an
und zeichnete die Bogenlinie des oberen Bauches, an den der vierte, den Oberteil
des unteren Bauches vollendende Strich anknüpfte. Analog geschrieben wurden auch
die übrigen Buchstaben mit Bauch - das D, P und R. Das P kommt hier in zwei
Varianten vor, deren zweite mit oben offenem Bauch den eben geschilderten Duktus
dieser zeichnerisch verwandten Buchstaben besonders anschaulich bestätigt. Einen
charakteristischen Duktus läßt auch das H erkennen, dessen Zeichnung an das heutige
К erinnert. Der Querbalken des L ist eine Wellenlinie, die unter die Fußlinie herab¬
gezogen wird. Das M trägt horizontale Serifen auf seinen Scheiteln. Der Ansatz der
Diagonale des Buchstabens N ist in die Mitte des linken Schaftes verschoben. In ver¬
schiedenen Varianten kommt das V vor, das durch die Aufrichtung der Schäfte und
ihre horizontale Verknüpfung in der Fußlinie ein eckiges Aussehen erhalten hat. Im
Übrigen nähert es sich unserem U oder Y. Von der klassischen Kapitale unterscheidet
sich diese Schrift darüber hinaus durch die noch schrägere Schattenachse und den
weniger ausgeprägten Strichstärkewechsel. Zusammenfassend kann man sagen, daß
es sich hier in der Tat um ein einzigartiges Beispiel einer mittelalterlichen Modifika¬
tion der klassischen Kapitale handelt, wenngleich es doch nicht ganz vereinzelt da¬
steht. Denn wir könnten hier ähnliche späte Derivate anführen, die jedoch kaum so
typisch sind. Bedeutsamer ist hingegen die Tatsache, daß wir der klassischen Kapitale
auch so spät noch in unverändert klassischer Gestalt als Schrift des gesamten Buch¬
textes begegnen. Es stellt ihrer erstaunlichen Lebenskraft sicherlich ein ausgezeichnetes
Zeugnis aus, wenn sie in dieser Rolle ein ganzes Jahrtausend standgehalten hat. Solche
Fälle sind allerdings selten, denn die klassische Kapitale war inzwischen vor allem zu
einer Auszeichnungsschrift für Kapitelüberschriften und Titelblätter geworden und
wurde oft auch für besonders hervorzuhebende Stellen im Text verwendet.
Bei der Analyse des Alphabets der mittelalterlichen Modifikation der klassischen
Kapitale, mit der die Pariser Handschrift eines Evangeliars aus dem 8. Jahrhundert
geschrieben ist, konnten wir gleichfalls gewisse Merkmale der Verwandtschaft mit
einer anderen Universalschrift des westeuropäischen Frühmittelalters feststellen, einer
für diese Zeit und das ganze Abendland außerordentlich typischen Form: der als
quadratische Kapitale bezeichneten späten Buchversion der römischen Monumental¬
schrift. Diese für den Schreiber so schwer zu meisternde Schrift der berühmten Ver-
gilhandschriften des 4.-5. Jahrhunderts erfreute sich in frühen Mittelalter einer ganz
besonderen Vorliebe und gewann eine feste Position unter den übrigen Schriften der
damaligen Kalligraphie. Da die quadratische Kapitale der Vergilhandschriften vom
Ausgang des Altertums ohne Vorentwicklung durch die mit kombinierter Schreib¬
technik erzielte Nachahmung epigraphischer Schriften entstand und übrigens, wie wir
wissen, nicht einmal die Schrift eines einzigen Typus war, wie z. B. die geschriebene
klassische Kapitale, konnte sie nicht zum Ausgangspunkt der Entwicklung jüngerer
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