DIE ALTRÖMISCHEN SCHRIFTEN IM MITTELALTER
Inschriften auch nach tausendjährigem Wirken neuer Stileinflüsse nicht ganz erloschen
ist. Ein anschauliches Beispiel des verhältnismäßig immer noch hohen Stands der
Inschriftenkunst aus romanischer Zeit ist ein nach 1048 entstandenes Epitaph im Dom
zu St. Stephan in Mainz (Abb. 134). Es zeigt eine verhältnismäßig noch sehr reine
Zeichnung der monumentalen Majuskel in klassischen Proportionen. Vom graphi¬
schen Gesichtspunkt aus weisen nur die Unterbringung des umlaufenden Textes im
Rahmen der Inschrift und die außerordentlich zahlreichen Ligaturen und mittel¬
alterlichen Abkürzungen neben gewissen vereinzelten Eingriffen in die Buchstaben¬
konstruktion auf eine so späte Entstehung der Inschrift hin. Als graphisch besonders
interessant sei hier die von rechts nach links geschriebene untere Textzeile im Rahmen
der Inschrift erwähnt. Der Schriftkünstler, der die graphische Anordnung der In¬
schrift entwarf, wollte mit dieser Lösung zweifellos die einheitliche Lesart des um¬
laufenden Textes beibehalten, dessen Anfang und zugleich Ende ein Kreuz in der
linken unteren Ecke bezeichnet. Es handelt sich also um eine Art Bustrophedon, das
überraschend spät auftritt und eine zweifellos unbewußte Anwendung dieser uralten
Schreibweise darstellt, die wir in den ältesten archaischen römischen Inschriften
kennengelernt haben.
Wenn die römische Monumentalschrift zur universalen Inschriftenform des mittel¬
alterlichen Westeuropa wurde, gilt dasselbe von ihrer kalligraphischen Parallele,
der klassischen Kapitale, jener kalligraphischen Schrift der Buch- und seinerzeit auch
der Urkundenhandschriften, die allgemein unter der kuriosen Bezeichnung ‘rustikale’
Kapitale bekannt ist. Ihre stark ausgeprägte Form war bekanntlich schon in den
ältesten uns bekannten Papyri aus dem ersten Jahrhundert der römischen Kaiserzeit
völlig vollendet, und zwar in einem rein handschriftlichen Duktus, der in Hinkunft
keine wesentlichen zeichnerischen Abweichungen vom klassischen Standard gestattete,
weshalb diese Schrift auch im Mittelalter weiterhin im großen und ganzen unver¬
ändert vorkommt. Die mittelalterlichen Modifikationen der klassischen Kapitale enthalten
daher auch nur selten wirklich mittelalterliche Elemente, und meist kann man sie
überhaupt nicht als Modifikationen bezeichnen. So z. B. die erst aus dem 9. Jahr¬
hundert stammende Handschrift des Evangeliars aus Prüm (Tafel XXVI), die sich
weder durch ihre Kalligraphie noch durch ihre Schrift von den Kapitale-Handschrif-
ten aus klassischer römischer Zeit unterscheidet und auch in dieser fernen Vergangen¬
heit nicht anders geschrieben worden wäre. Wenn eine derartige klassische Kapitale
später frühmittelalterlicher Handschriften sich in etwas von ihrem klassischen altrö¬
mischen Prototyp unterscheidet, so sind es in der Regel nur ganz unbedeutende Va¬
rianten gewisser Einzelheiten der Buchstabenzeichnung. Allerdings kommen auch
Ausnahmen vor, bei denen die klassische Kapitale dennoch bedeutsameren Eingriffen
unterlag, so daß man eine solche Schrift mit Recht als mittelalterliche Modifikation
der klassischen Kapitale bezeichnen kann. Eine solche Modifikation stellt beispiels¬
weise die klassische Kapitale eines Pariser Evangeliars aus dem 8. Jahrhundert dar.
Sie läßt einige wesentliche Abweichungen vom klassischen Duktus erkennen und ver¬
ändert damit sowohl das Gesamtbild der Zeile als auch der ganzen Textseite. Beim
Vergleich mit dem Evangeliar aus Prüm sehen wir, daß die Zeilen der Schrift des
Pariser Evangeliars konsequent in die betonten Horizontalen eines Zweiliniensystems
eingeordnet sind und daß dadurch zugleich der Majuskelcharakter der Schrift her¬
vorgehoben wird. In ihrem Alphabet (Abb. 135) kommt zwar eine ganze Reihe von
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I35- Mittelalterliche Modifikation der klassischen römischen Kapitale. 8. Jahrhundert.
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