TEIL II. DIE LATEINSCHRIFT DES FRÜHEN MITTELALTERS
KAPITEL I. DIE ALTRÖMISCHEN SCHRIFTEN IM MITTELALTER
DER ZEITABSCHNITT, in dem die jüngere römische Kursiv das Übergewicht
über die ältere klassische Kursiv gewann, fällt chronologisch etwa mit dem Beginn
der Völkerwanderung zusammen, d. i. mit dem Beginn der ebenso verzweifelten wie
vergeblichen Verteidigung der erschöpften und demoralisierten römischen Zivilisa¬
tion gegen den Ansturm der unverbrauchten germanischen Stämme. Während es den
Römern im 4. Jahrhundert noch gelang, die Kämpfe auf die Provinzen zu beschrän¬
ken, griffen diese am Anfang des 5. Jahrhunderts auf das eigentliche Italien über.
Schon 410 wurde Rom von seiner größten nationalen Katastrophe betroffen, als der
Westgotenkönig Alarich es eroberte und ausplünderte. Den Untergang dieser ruhm¬
reichen Stadt vollendeten dann die germanischen Vandalen um die Mitte des 5. Jahr¬
hunderts, und von diesem Schlag sollte sich Rom nicht mehr erholen. Der Zerfall des
römischen Imperiums war im Jahre 476, als durch die Reichsgründung Odoakars in
Italien das weströmische Reich entgültig zu existieren auf hörte, eine vollendete Tat¬
sache, denn seine Erneuerung durch Karl den Großen im Jahre 800 in Gestalt des
Heiligen Römischen Reiches war nur eine politische Fiktion. Ein besseres Schicksal
wurde dem Osten des geteilten römischen Imperiums - dem byzantinischen Reich -
zuteil. Es beherrschte Italien zeitweilig zu einem kleineren oder größeren Teil macht¬
politisch und lange Zeit auch kulturell.
Im Zusammenhang mit dieser flüchtigen Skizze der bewegten Geschichte Italiens
am Ausgang des Altertums müssen wir uns die interessante Tatsache vergegenwär¬
tigen, daß der Zerfall des römischen Reiches keineswegs einen ebenso entscheidenden
Umschwung in der Entwicklung der Lateinschrift zur Folge hatte. Wir haben gele¬
gentlich bereits festgestellt, daß nicht nur die römischen Inschriften- und Buchschrift¬
formen, sondern auch die römische Kursiv sich unter den veränderten politischen
Bedingungen des frühmittelalterlichen Europa, als Rom bereits aufgehört hatte, der
politische Mittelpunkt der Welt zu sein, weiterentwickelten. Die barbarischen Er¬
oberer, die nunmehr die ausgedehnten Gebiete der Provinzen und des Mutterlandes
des römischen Imperiums unter sich aufgeteilt hatten, übernahmen im Bestreben um
ein höheres Zivilisationsniveau vieles aus dem kulturellen Nachlaß des alten Roms,
vor allem die lateinische Sprache und Schrift. Dadurch verbreiterte sich die geogra¬
phische Grundlage der Lateinschrift zwar noch mehr, aber ihre Entwicklung stagnierte
ganze Jahrhunderte lang. Die jüngere römische Kursiv war die Hauptschrift der neuen
Herrscher, in deren Verwaltungszentren sie zum Ausgangspunkt mehrerer lokaler
Modifikationen wurde. Doch inzwischen kamen auch die übrigen römischen Schriften,
zu denen die Entwicklung der Lateinschrift am Ausgang des Altertums gediehen war,
das ganze Frühmittelalter hindurch nicht außer Gebrauch. Es waren somit nicht nur,
wie wir bereits wissen, die römischen Buch- und Kursivschriften, die das römische
240
DIE MODIFIKATIONEN DER SCRIPTURA MONUMENTALIS
Imperium überlebten, sondern auch die römischen Inschriftenschriften, von denen
die römische Monumentalschrift eigentlich nie ganz zu existieren aufhörte, obwohl
sie natürlich mit der Zeit hier und dort Einflüssen des wechselnden Geschmacks unter¬
worfen war. Diese Einflüsse hatten eine radikale Veränderung der Orientierung der
graphischen Anschauungen und damit schwerwiegende Eingriffe in die graphische
Ordnung der Monumentalinschrift als eines Kompositionsganzen und zugleich auch
in die Ordnung und Zusammensetzung des Monumentalalphabets zur Folge. Der
Proportionsrhythmus der einzelnen Buchstaben untereinander wurde nicht mehr ein¬
gehalten, und die Buchstaben selbst litten oft stark durch verschiedene Deformationen,
mit denen wir uns hier jedoch vorläufig nicht befassen werden. In der Regel waren
dies keine schönen Schriften, sondern solche des Verfalls mit allen seinen typischen
Merkmalen. Genauso können wir jene zahlreichen Inschriften aus dem frühen Mittel¬
alter außer Acht lassen, in denen verschiedene Varianten handschriftlicher Schriften -
vor allem der Unziale - verwendet wurden, die man fast nie der Inschriftentechnik
in Stein, Metall oder anderen epigraphischen Materialen anpaßte. Wenn diese Schrif¬
ten und vor allem die mittelalterlichen Modifikationen der römischen Monumentalschrift grö߬
tenteils vom Verfall der Inschriftenkunst dieser Zeit zeugen, finden wir manchmal
dennoch überraschende Beweise dafür vor, daß der Geist der klassischen römischen
D О IVI Miti XIAZl IГ-IN DIC TTÒ VIV
ir,
NETRAN SIRE\£ESFRA-EKLÉCTCR04lDEUS
©VlNfvEAFACKLEGASIECO’F CNDOTGAS
NOS ѲѴТ RRA SVMWi l\ET OM SEXnVbf
NV LLP/T TJVE PJTMH/NIte CATINI RIT
HIN CIÉ G SADfÆR S О/ЙIS С О PElIiTRFI?
EXVT'TOPOMOMOC'RAHTroMSHOIÇl
ETOVADEFOVlSTIV/LSSERPENiSINIO
SPSATOi’TtEMITH/NIOWiVIPAPMIT
LE CTO RAIVKND E P€SÆ>XPMLFDEDLfS
SPSÆTERNA SPIRET V.T IN\£N)aJ
\+ мдхокУАЯршячамомзтзодгп
134. Epitaph im Dom zu St. Stephan aus der feit nach 1048. Mainz.
241