RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
Querbalkens umfaßt zu werden. Das oft unter die Fußlinie verlängerte x behält im
übrigen seine Grundform bei, ebenso wie die selten vorkommenden Buchstaben у
und z-
In graphischer Hinsicht zeichnet sich die Schriftpraxis der ravennatischen Urkun¬
den, die mit der verhältnismäßig scharf zugeschnittenen Rohrfeder und daher mit
einer uniformen, undifferenzierten Linie geschrieben sind, durch ein sehr hohes Ni¬
veau aus. Die Schriftzeichnung wird in einigen Fällen mit einer so souveränen Freiheit
und Sicherheit des Duktus traktiert, daß ein solches Schriftschaffen tatsächlich nicht
mehr allzu weit von einer wirklichen Kalligraphie entfernt ist (Tafel XXXIX b).
Daraus folgt, daß auch eine so kursive und für die meisten von uns so schwer zu ent¬
ziffernde Schrift als schön gelten kann, obwohl sie es im Grunde bestimmt nicht ist.
Ihre Schönheit verdankt sie somit nur der kalligraphischen Ausführung, was wiederum
beweist, daß eine Klassifizierung der Schriften in kalligraphische und nichtkalligra¬
phische fehl am Platz ist. Das Kalligraphische stellt nur einen Qualitätsbegriff der
graphischen Behandlung dar; denn jede Schreibform kann ja nach der Qualität der
Reproduktion als kalligraphisch oder nichtkalligraphisch bezeichnet werden, wovon
wir uns bereits früher überzeugt haben und was wir immer wieder bestätigt finden
werden.
Mit der Schrift der ravennatischen Urkunden kann unsere kurzgefaßte Übersicht
der Entwicklung der römischen Kursiv im Altertum als abgeschlossen gelten. Beide
Formen der römischen Kursiv, die ältere und die jüngere, ließen bereits eine beacht¬
liche Schreibgeschwindigkeit zu, die aber in gewissen Fällen noch nicht ausreichte.
Manchmal, z. B. beim Diktat oder bei der Festhaltung von Reden, mußte man zu
anderen Mitteln greifen, um die Schnelligkeit der Niederschrift weitgehend zu stei¬
gern. In den ältesten Zeiten dienten diesem Zweck gewisse Abänderungen der Kon¬
struktion der lateinischen Majuskel, die diese zu einer Art Kurzschrift machten. Solche
Schriften gehören zwar nicht in den Bereich unseres Studiums, aber interessehalber
seien hier ihre altrömischen Formen erwähnt. Die erste derartige Form der römischen
Tachygraphie aus älterer Zeit waren die uns bereits aus den Inschriften bekannten
litterae singulares oder Sigel. Sie hatten jedoch keinen besonderen Einfluß auf die Schrift¬
zeichnung, da sie sich nur darauf beschränkten, einem einzigen Buchstaben die Be¬
deutung eines ganzen Wortes zu unterlegen. Später wurde diese Bezeichnung auch auf
Kürzungen aus zwei und mehr Buchstaben angewandt, mit denen die einzelnen Silben
des gekürzten Wortes begannen. Einen wirklichen Eingriff in die Konstruktion der
römischen Majuskel bedeutete das notae tironianae genannte Kurzschriftsystem. Es ist
jedoch nicht wahrscheinlich, daß sie von Ciceros Freigelassenem Tiro, dem sie diese
Bezeichnung zuschreibt, erfunden wurden, sondern sie sind vermutlich schon viel
früher entstanden, vielleicht dank dem Dichter Ennius (239-169 v. Chr.), wie es in
manchen Berichten heißt. Die tironischen Noten setzten sich einerseits aus dem Al¬
phabet der von der Majuskel abgeleiteten Grundzeichen, anderseits aus Hilfszeichen
in Gestalt verschiedener und in verschiedener Lage angebrachter Akzente zusammen.
Der Kombinationen von Grund- und Hilfszeichen gab es natürlich außerordentlich
viele, und Seneca hat deren im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung an fünftausend
gezählt. Die Grundzeichen des Alphabets der tironischen Noten kamen durch die
kursive Vereinfachung der einzelnen Buchstaben bis auf das unerläßliche Minimum
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RÖMISCHE TACHYGRAPHIE
von Strichen zustande und erinnern manchmal an die ältere römische Kursiv. Als
Beispiel sei das A in seiner kursiven Form mit ausgelassenem Querstrich oder mit nur
einem oder dem anderen Schrägbalken genannt. Das В wurde durch den Fortfall
des Schaftes zur Form der arabischen Zahl 3 reduziert, das С war einfach genug, um
weitere Abänderungen unnötig zu machen, usw. Dieses stenographische System war
während der römischen Kaiserzeit außerordentlich verbreitet. Es wurde an den Schu¬
len unterrichtet, und manche Persönlichkeiten beherrschten es mit großer Meister¬
schaft, so angeblich auch Kaiser Titus. Es blieb bis tief ins Mittelalter in Gebrauch
und gedieh vor allem in der Hofkanzlei des Frankenreiches zu großer Vollkommen¬
heit. Leider haben wir vom eigentlichen Aussehen der tironischen Noten in der alt¬
römischen Epoche keine genug bestimmte Vorstellung, weil sie in keiner Handschrift
aus der Zeit vor dem 6. Jahrhundert erhalten sind.
Wir könnten unsere Übersicht der Entwicklung der altrömischen Schriften ohne
Unterbrechung fortsetzen, denn die Scheidelinie zwischen den Schriften des Altertums
und jenen des Mittelalters ist nur sehr unbestimmt. Die Entwicklung blieb hier nicht
stehen und läßt keinerlei grundsätzlichen oder Stilumschwung erkennen. Ihre Konti¬
nuität in dieser umwälzenden Epoche der europäischen Geschichte blieb ungestört,
weil der Verfall des römischen Imperiums nicht zum gleichzeitigen Untergang der
lateinischen Kultur, Sprache und Schrift führte. Es wären daher in diesem Kapitel
unserer Übersicht noch einige andere eng mit der Vorentwicklung verknüpfte Schrif¬
ten zu behandeln, aber mit Hinblick auf ihre noch stärkere Bindung an die typischen
Schriftformen des Frühmittelalters halte ich es für nützlicher, sie erst im folgenden
Teil dieses Buches zu erörtern. Dorthin verweisen wir auch einige jüngere Varianten
altrömischer Schriften, die wir mit dem Stil ihrer typisch mittelalterlichen Kalli¬
graphie in der eben abgeschlossenen Überschau der Lateinschrift des Altertums als
störend empfänden.